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Medien und Ideen

Nach dem Krieg

Es war für mich als Kind eine der bemerkenswertesten Erzählungen, die mir meine Mutter aus ihrer Nachkriegsjugendzeit machte: Sie habe mit ihrer Schwester alte Zigarettenstummel für ihren Vater gesammelt, damit er aus dem Resttabak der weggeworfenen Tschick sich dann neue drehen konnte. Den mitunter wenig beschäftigten Besatzungssoldaten sei diese Beschäftigung aufgefallen und sie hätten sich oft schon nach wenigen Zügen wieder die nächste angezündet, damit die Tiroler Mädchen möglichst lange Stummel ergattern konnten.

Diese Erzählung war für mich immer ein Beleg für die große Armut und das Elend, die hierzulande nach dem verlorenen Weltkrieg herrschten, die Geste der Soldaten empfand ich als eine zutiefst menschliche von Besatzern, die Befreier waren und auf eine bessere Zukunft verwiesen.

Heute beobachtete ich mit meinen beiden Kindern an der Straßenbahnhaltestelle beim Südbahnhof einen jungen Mann, vielleicht Anfang 20, der direkt hinter und vor den einfahrenden Straßenbahnen den Gleiskörper abging auf der Suche nach längeren Zigarettenstummel. Die Fundstücke gab er routiniert in eine Plastiktasche, den Blick stets nach unten gerichtet um keinen lohnenden Stummel zu übersehen. Mehrmals ging er die Bereiche der Haltestellen in beide Richtungen ab, tat einen Schritt zur Seite bei einer herannahenden Bim, liess sich kürzestmöglich unterbrechen und schritt das Feld gewissenhaft zu Ende ab.
Es gab niemanden, der ihm absichtlich längere Stummel in den Weg warf, und es hatte den Eindruck, dass die Ausbeute eine eher geringe war. Einige Stummel nahm er kurz in die Hand, begutachtete sie mit raschem Blick und liess sie wieder zu Boden fallen. Bis zum Filter geraucht die meisten Zigaretten, nichts zu verschenken, weiß dazu die Werbung zu sagen.

Ich war dann beschäftigt, meine Kinder vom Spiel des Stummeleinsammelns abzubringen, am Boden liege der Müll anderer Leute, nochdazu etwas so unhygienisches wie ein oral benutzter Zigarettenstummel. Ja, der Mann habe das gemacht, aber der Mann sei in einer bedauernswerten Situation. Und dann erzählte ich ihnen die Geschichte, die ihre Oma mir erzählt hatte.
Damals, nach dem Krieg, 1950. Und jetzt 2011.

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