5.2 Die Rakete
Die zweite entscheidende waffentechnische
Neuerung des zweiten Weltkriegs ist die Raketentechnologie, die in
Kombination mit den Nuklearwaffen das apokalyptische Arsenal komplettiert.
Raketen sind auf den ersten Blick eindeutig phallische Waffen. Sie
werden (bzw. wurden) als Produkte eines ,phallischen Todeskultes"
(Mahler 1983, S. 277) "In Ost und West bei Militärparaden stolz
der Menge vorgezeigt" (ebd.).
"die Wunderwerke der Raketentechnik verheißen
dann Allmacht und Stärke für den, der sie besitzt. Sie
sind zugleich Todes- und Vernichtungsdrohung gegenüber dem
Feind. Sie dienen darüberhinaus der Einschüchterung aller
Menschen, auch im eigenen Lager" (ebd.).
Mahler extrapoliert aus diesem "Todeskult" und einem von ihm angenommenen
Gebärneid der Männer eine "stilisierte Kurzantwort der
Männerwelt der Frauenwelt gegenüber":
"gebären können wir nicht! Was immer Ihr
aber unter Schmerzen und in langen Zeiten aus Euren Schößen
hervorgebracht habt, im Einklang mit der seit Millionen Jahren lebensspendenden
Mutter Erde, das können wir heute in Augenblicken zerstören!"
(Mahler 1983, S. 277).
"Alles was der Mensch geschaffen hat, kann
von Menschenhänden kurz und klein geschlagen werden - in
ein paar Sekunden. Diese Erkenntnis kann uns schwermütig
machen. Das ist die böse Kehrseite der glänzenden
Erfindung, die man 'Eroberung der Luft' genannt hat."
Paul Scheerbart |
Diese "allmacht im Negativen" (Mahler 1983, S. 278, in Anlehnung an
Anders) ist durch Raketen samt Sprengköpfen versinnbildlicht.
Abrüstung bedeutete demnach Kastration:
"soviel Angst die Rüstungsarsenale auch uns
Männern machen müßten, noch größer scheint
die Angst zu sein, sich ihrer wieder zu entledigen. [...] Es geht
also gar nicht um 'lieber rot als tot', oder 'lieber tot als rot',
sondern um 'lieber tot als kastriert'. Der Phallus ist dabei nicht
Lust- und Zeugungsorgan, sondern ein Insignum der Macht und der
Zerstörungslust." (Mahler 1983, S. 278)
Folgt man Mahlers Einsicht aus der Blütezeit des Kalten Krieges,
ist dann die Kastrationsangst der Raketenbesitzer rückblickend nicht die Erklärung dafür, dass
der Atomkrieg nicht stattgefunden hat? Weil nicht nur die Abrüstung
sondern auch der Abschuss der eigenen Raketen eine Kastration bedeutet
hätte. Die Welt wäre in den 80ern demnach nicht deswegen
nicht untergegangen, weil den handelnden Subjekten die Einsicht
kam, dass sie keinen Selbstmord durch MAD (Mutual Assured Destruction)
begehen wollen, sondern weil sie die Kastration abwenden wollten.
Am Ende des Kalten Krieges bleiben die Raketen stehen, nur die Mauer
fällt.
Nach Ende des Kalten Krieges brauchen Raketen, smarte Bomben etc.
(auch Derivate von Nuklearwaffen ) nicht mehr gehortet zu werden. Sie zeigen sich im Golfkrieg
vielmehr selbst - in zerstörerischer Aktion mittels installierter
Kameras oder mittels ununterscheidbarer Simulation. Ich denke, dass
es sich dabei aus mehreren Gründen um keine Kastration handelt:
Es werden nicht die ,big boys", sprich: Interkontinentalraketen,
sondern derern kleinere Nachfolger abgeschossen. Die mit dem Prädikat
"Intelligent" versehenen Waffensysteme, die Cruise Missiles und
Patriot-Raketen, sind weniger phallische Waffen als vielmehr spermische
Waffen - wie Spermien
sollen sie ihren Weg, ihre Bestimmung selber finden. Wie diese sind
sie zahlreich, wie diese verirren sie sich mitunter. Wie diese tragen
sie Wissen in sich, sind sie intelligent. Statt eines "Lebensplans"
ist es allerdings ein Zerstörungsplan.
Einen anderen Zugang zum Themenfeld der Raketentechnologie ermöglicht
das Denken Sloterdijks.
Sloterdijk (1987) argumentiert in einem Aufsatz über Vergeltung
für die Berücksichtigung des Zusammenhangs von Gewalt,
Schmerz und Wahrheit. Er benennt ein "Ensemble archaischer Wahrheitshandwerke"
(Sloterdijk 1987, S. 129), zu dem neben der Vergeltung die alltäglichen
Richtigkeitsverben Stimmen, Passen, (Zu)Treffen gehören. Mittels
dieser "sinnlich gestischen Richtigkeiten" werde ein unmittelbarer
Wahrheitsbegriff eingeübt. Vor allem die Funktion des Treffens
sieht Sloterdijk als zentral; noch das heutige Wort "Treffen" bewahre
in der Form ,zutreffen von Aussagen" den archaischen Zusammenhang
zwischen Pfeil und Ziel, zwischen Geschoß und Objekt. Und
er folgert:
"Wahrscheinlich ist Treffen die wichtigste, zumindest
die gefährlichste und folgenreichste Funktion im Wahrheitshandwerk
der Menschheit - immerhin haben die modernen Interkontinentalraketen
mit Atomsprengköpfen ihre Fähigkeit des Treffens von Zielen
aus größter Ferne bis auf wenige Meter präzisiert
- eine Richtigkeitsleistung, die in unmittelbarer ununterbrochener
Tradition mit den Tätigkeiten der ältesten Jäger-
und Sammlerkulturen steht, somit eine paläolithische Wahrheitsfunktion,
die daran erinnert, daß ohne den Schuß, der zum Treffer
führt, aus dem sogenannten Zivilisationsprozeß - der
ja ein fortwährender Distanzierungsprozeß ist - nichts
geworden wäre. So gibt es ein Kontinuum im Wahrheitsbegriff
der Schützen, Jäger und Artilleristen, das von steinzeitlichen
Praktiken bis in die Gesten der spätmodernen Nuklearstrategie
reicht." (Sloterdijk 1987, S. 129)
In einem Text über den Film Terminator II kommt Sloterdijk
(1994) auf diese Argumentationsfigur zurück:
Er beansprucht in diesem Text nicht weniger, als zu zeigen, dass
das moderne Actionkino mit seinen beiden "universalien" Laufen und
Schießen "den lange vermißten Schlüssel zum Affe-Mensch-Übergangsfeld
liefert" (Sloterdijk 1994, S. 19). Diesen Schlüssel zur Menschwerdung
findet Sloterdijk in dem historischen Moment, in dem ein flüchtendes
Affen-Wesen sich umdreht, sich zum Gegenangreifer transformiert
und einen Ast oder Stein auf seinen Verfolger wird.
"Man könnte geradezu von der Geburt des Menschen aus dem Geist
des Gegenangriffs sprechen. Am Anfang war die Gegengewalt - das
heißt, die Gewaltflucht, die durch Würfe Grenzen in den
Raum zieht" (Sloterdijk 1994, S. 22) .
Der Mensch ist demnach, "soweit er sich im Gegenangriff selbst erfunden
hat, ein artilleristisches Tier" (ebd., S. 22). Dabei ist (wie schon
im Zitat von 1987) die Beziehung des Schützen zum Objekt von
besonderem Interesse:
"die Objektbeziehungen der Schützen sind von
einer Art, die man als glücklichen Sadismus charakterisieren
könnte. Auf ein Objekt schießen heißt nicht nur,
es aus dem Weg schaffen oder von den Füßen bringen wollen:
Ein 'wahrer' Schuß erkennt im Andern ein Etwas, das sich dort
aufhält, wo besser ein Nichts wäre, und ist daher, wenn
er zum Volltreffer führt, die 'Herstellung' dieses genauen
Nichts an der Stelle des falschen bisherigen Etwas." (S. 23)
Dieses "Vernichtungswunder der Horden-Menschheit" (ebd., S. 23)
feiert der Action-Film mit seinem "Kult des Treffers". In Terminator
II sieht dank computergenerierter Bilder endlich ,jeder ohne weitere
Vermittlung, worauf es beim Terminieren ankommt: Ein Loch dort entstehen
lassen, wo zuvor etwas Volles, Widersacherisches, Falsches war"
(ebd., S. 26).
En passant hatte Sloterdijk schon die "geburt des Menschen aus dem
Geist des Gegenangriffs" in Betreff auf die weltgeschichtliche Bedeutung
mit dem "Entzünden des nuklearen Feuers" verglichen (ebd.,
S. 20). In Anlehung an die Filmhandlung zeigt er die Verbindung zwischen Artillerie und Nuklearem (Weltuntergang)
erneut auf:
"Was aber, wenn die Welt im ganzen als Störung
auffällt? Wie, wenn die Erde zur Zielscheibe einer letzten
umfassenden Beschießung wird? Einfache Helden in Aktion orientieren
sich, wie wir wissen, an der gesunden Idee vom vernichtenden Treffer.
Terminatoren im letzten Gefecht hingegen orientieren sich an dem
heilbringenden Auftrag, die globalen Vernichter zu vernichten. [...]
Wer mit Erfolg auf diejenigen schießt, die drohen, auf alles
zu schießen, wird zum Erlöser mit der Schußwaffe
als Heilszeichen." (S. 26f)
Im
Zentrum der Überlegung thront die "Geburt des Menschen" aus
der Entdeckung der artilleristischen Fähigkeiten des Affenmenschen,
welcher sich zum Menschen macht, indem er rauschartig seine Macht
erfährt, Dinge zum Verschwinden zu bringen.
Sloterdijk imaginiert mit seinem Rekurs auf die "Vorzeit" des Menschen
ein "Weltgeburtsmodell, das ganz ohne Frauen auskommt" (Theweleit
1995a, S. 45). Er steht damit in der philosophischen Tradition des
Ausschlusses der Frauen aus der Weltgeburtsarbeit, was Theweleit
(ebd., S. 46) als das ,Basisopfer" der Philosophie bezeichnet. "die
meisten philosophischen (wie auch religiösen) Gedanken dieser
Art bestehen aber ganz schlicht aus der Tatsache, die Mutter gestrichen
zu haben aus der Geburt" (ebd., S.46).
Bemerkenswert ist weiters die Verbindung zwischen dem behaupteten
Menschheitsanfang und dem denkbaren Menschheitsende. Bei Sloterdijk
zeigt sich dies am deutlichsten in der Parallelisierung zeitgenössischer
Waffentechnologie mit urzeitlicher. Wer den ersten Stein warf, der
droht heute mit Nuklearraketen. Menschheitsgeschichte wird aus einer
identischen Geste verstanden. Technikgeschichtliche Unterscheidungen
verlieren für diese Sichtweise jede Relevanz. Ein einheitliches
Kriegsbild wird hergestellt und ein heroisches Bild des Kämpfers
reaktiviert:
Müller (1984) zitiert einen Versuch von Ernst Jünger,
angesichts der neuartigen maschinellen Physiognomie des ersten Weltkrieges
ein heroisches Selbstbild zurückzugewinnen. Jünger zählt
im Lazarett seine Wunden:
"In diesem Kriege, in dem bereits mehr Räume
als einzelne Menschen unter Feuer genommen wurden, hatte ich es
immerhin erreicht, daß elf von diesen Geschossen auf mich
persönlich gezielt waren. Ich heftete daher das Große
Verwundetenabzeichen, das mir in diesen Tagen verliehen wurde, mit
Recht an meine Brust." (zit. bei Müller 1984, S. 111f).
Eine vergleichbare Szene findet sich in Terminator I, wenn sich
der Terminator selbst verarztet, sich Kugeln aus dem Hautüberzug
zieht. Er kann als Maschine jedoch daraus keinen Stolz gewinnen.
Man könnte dann Terminator II als Überwindung des Maschinenkämpfers
aus dem ersten Teil lesen. Die Maschine kann zwar noch gewinnen,
geht jedoch ebenso unter wie der organischere Gegenspieler. Beiden
gemeinsam ist, dass sie keine Menschen sind, aber äußerlich
wie Menschen ausschauen .
Doch "das Ziel solcher Akteure [ist] nicht mehr, in einem als männlich
qualifizierbaren Stil zu kämpfen und zu siegen, sie wollen
die Objekte nur noch fäkalisieren und über Kot und Schutt
hinwegschreiten" (Sloterdijk 1994, S. 28).
Die "Kampfmaschinen" sind nicht-menschlich weil sie nicht mehr männlich
kämpfen. Ihre Waffen sind auch keine phallischen mehr, sondern
,nach vorn versetzte anale Projektoren, die den Gegner herrichten
für die Deponie" (ebd., S.28).
Sloterdijk erkennt das "Ende der phallischen Waffen" in de facto extrem phallischen Waffen, aber: "an einem solchen
Mann ist nichts, was nicht auch an einer Sprinklerautomatik wäre"
(ebd., S.28). Es sind keine ,richtigen Männer", also können
es auch keine phallischen Waffen sein: "Wohl finden alle Duelle
wirklich unter Männern statt, aber unter Männern in men's
rooms, Männern, die zur Apokalypse auf der Toilette blasen,
Männern, die sich mittels analtechnischer Heißluft-Geräte
gegenseitig aus der Welt furzen" (ebd., S.28).
Das ist phallische Homophobie.
Befremdlich bleibt ebenfalls die Abfeierung des ersten Tötungsaktes
durch Sloterdijk als Legitimierung neuzeitlicher Artillerietechnologie.
Die Verankerung der Subjekt-Objekt Beziehung in der ekstatischen
Naturüberwindung durch den "geist des Gegenangriffs" (ebd,
S. 22) erinnert stark an atomare Doktrinen der 80er Jahre, die ein
Freispielen aus dem Patt der Drohung ermöglichen sollten. Durch
eine plötzliche Volte kommt ein Moment der Überraschung
beim Weglaufen des Affenmenschen vor dem Verfolger ins Spiel, das
euphorisches Überleben auf der einen und unerwarteten Exitus
auf der anderen Seite produziert. Ein ähnliches Überraschungsmoment
kennzeichnete auch die als "star Wars" bekannten US-Pläne eines
orbitalen Schutzschildes (SDI), die einen Ausweg aus dem atomaren
Gleichgewicht des Kalten Krieges ermöglichen sollten, indem
sie den Erstschlag für den Angreifer überlebbar vorstellten.
Wie die plötzliche Wendung des Slotderdijkschen Affenmenschen
eine Qualitätsänderung des Kriegszustandes bezeichnet,
so markiert auch das Konzept SDI eine Veränderung im Kalten-
Kriegszustand (und kann rückblickend als Vorbote auf das baldige
Ende des Kalten Kriegs interpretiert werden).
Der Anknüpfungspunkt zu Horstmann liegt im Moment des Verschwindens,
des Absprechen des Existenzrechtes, des Herstellens eines Nichts
anstelle eines "Falschen Etwas", das Sloterdijk als Kern der menschlichen
Natur- und Objektbemächtigung benennt. Diesen Entsprechungen
werde ich im folgenden Kapitel nachgehen.
|