5.5 Die unterschlagene Katastrophe bei Platon und Freud
In diesem Kapitel folge ich einer
Spur bei Freud, die vom Todestriebkonzept zu Platon führt, und
in deren Folge eine männliche Theorie der Weltgeburt und des
Weltuntergangs sichtbar wird.
Freud führt die dem Horstmannschen Untier zentral zugrundeliegende
Konzeption des Todestriebes 1920 in der vielschichtigen Schrift
Jenseits des Lustprinzips (JdL) ein. Freud behauptet darin einen
fundamentalen Triebdualismus aus Lebens- und Todestrieb
; letzteren braucht Freud, um gewisse Phänomen jenseits des
Lustprinzips verarbeiten zu können, v.a. den Wiederholungszwang
unlustvoller Situationen, der etwa das grundlegende Theorem, dass
Träume Wunscherfüllungen sind, zu erschüttern droht.
Ich will im folgenden keine umfassende Untersuchung des Todestriebes geben, sondern möchte nur dem Hinweis
Freuds gegen Ende von Jenseits des Lustprinzips folgen, der zu einer
philosophischen Urszene bei Platon führt, in der eine männliche
Theorie des Weltuntergangs angelegt ist.
Freud sieht gegen Ende von JdL lediglich den "Lichtstrahl einer
Hypothese" (Freud 1992, S. 242), um die für den Todestrieb
bereits nachgewiesene konservative Triebfunktion (= die dem Wiederholungszwang
zugrundeliegende Tendenz zur Herstellung eines früheren Spannungsgleichgewichts)
auch für den Sexualtrieb nachzuweisen, und zwar in Platons
Symposion. In Aristophanes' Rede von den "Kugelmenschen" sieht Freud
die eine Bedingung erfüllt, ,nach deren Erfüllung wir
streben", nämlich die Ableitung des Sexualtriebes "Von dem
Bedürfnis nach Wiederherstellung eines früheren Zustandes"
(Freud 1992, S.242).
Freud zitiert kurz die Erzählung über die einstigen drei
Geschlechter von Kugelmenschen, ihre Zerschneidung durch Zeus und das Verlangen der gespaltenen Menschen, wieder zusammenzuwachsen.
Freud skizziert in einem knappen Absatz seine vom "Wink des Dichterphilosophen"
angeregte These, "daß die lebende Substanz bei ihrer Belebung
in kleine Partikel zerrissen wurde, die seither durch die Sexualtriebe
ihe Wiedervereinigung anstreben" (Freud 1992, S. 244). Freud versucht
dabei nicht mehr und nicht weniger als eine Erklärung der Entstehung
des Phänomens Leben. Die Sexualtriebe sind demnach Ausdruck
des Wunsches, die ursprüngliche Ganzheit wiederherzustellen.
Die gesamte Evolution ist der Umweg, der gegangen werden musste,
damit bei den höheren Lebensformen (also v.a. beim Menschen)
eine weitestgehende Annäherung an die ursprüngliche Ganzheit
im Sexualakt wiederherstellbar ist.
Der platonische Mythos liefert so mit den "Wieder-ganzen-Menschen"
für den Sexualtrieb den wieder herzustellenden Urzustand, dessen
Gegenstück für den Todestrieb Unbelebtheit heißt.
Die Schwierigkeit, wie zwei sich widersprechende Urzustände
gedacht werden können, verschweigt Freud keineswegs, er legt
die Mühe, die ihm diese Konzeption bereitet, offen. Der ganze
Text von JdL ist ein großes Sich-Abmühen, und Freud betont
diese Anstrengung explizit immer wieder. Es ist schließlich
der männliche Geburtsvorgang einer Theorie des Schmerzes und
der Aggression, und dieser kann selbst nicht anders als demonstrativ
schmerzvoll verlaufen.
Eine wichtige Interpretation zu Freuds Platonverweis bietet Klaus
Heinrich . Er lenkt
den Blick auf die unterschlagene Katastrophe bei Platon: Schon die
Verzögerung der Rede des Aristophanes durch heftigen Schluckauf
ist katastrophisch. Die Rede des Arztes Eryximachos wird vorgezogen,
damit Aristophanes Zeit hat, die Ratschläge des Arztes (Luftanhalten,
Gurgeln, Nase zum Niesen reizen) zu befolgen. Durch heftiges Niesen
kann Aristophanes schließlich den Schluckauf vertreiben. Und
in der Erzählung von den Kugelwesen ist die eigentliche Katastrophe
noch vor der Zerschneidung der Menschen angesiedelt:
Es gab drei Geschlechter von kugelförmigen Urmenschen: Das
männliche, das von der Sonne abstammte, das von der Erde abstammende
weibliche und das vom Mond abstammende männlich-weibliche.
Alle Kugelmenschen hatten doppelte Geschlechtsteile, bewegten sich
radschlagend mit ihren acht Extremitäten, zeugten in die Erde
und fühlten sich so stark und kräftig, dass sie Hand an
die Götter legten und diese stürzen wollten. Diese Katastrophe
(für die Götter) wird durch die Zeussche Idee der Zerschneidung,
Spaltung der Kugelmenschen abgewehrt (was die Katastrophe für
die Menschen bedeutet). Die Halbierung soll den Menschen den Hochmut
nehmen, eine weitere Zerschneidung stellt Zeus bei erneutem Sturm
gegen die Götter in den Raum . Die saubere Zerschneidung nimmt Zeus selbst vor ("so wie
man Birnen zerschneidet oder Eier mit einem Haar", Platon 1996,
S. 57), Apollon besorgt den erforderlichen plastischen Umbau, er
dreht die Gesichter nach vorne zur Schnittstelle ("damit der Mensch,
seine Zerschneidung betrachtend, bescheidener würde", ebd.),
zieht die Haut über den Bauch zusammen und läßt
alles verheilen. Die so halbierten Menschen suchen nun verzweifelt
nach ihrer anderen Hälfte, und umarmen diese im Bedürfnis
zusammenzuwachsen, und gehen dabei an Untätigkeit, Hunger oder
Erschöpfung zugrunde, weil sie unfähig sind, sich loszulassen.
Ihre Geschlechtsteile befinden sich nämlich noch an der Außenseite,
sie befruchten noch die Erde. Jetzt erst erbarmt sich Zeus und versetzt
die Geschlechtsteile nach vorne, die Götter wollen schließlich
nicht auf die Opfergaben der Menschen verzichten, sonst hätten
sie sie ja auch völlig vernichten können. Nach dieser
Einrichtung der Fortpflanzung durch den zweiten operativen Eingriff
sind die Menschen in ihrer heutigen Form hergestellt. Jeder Mensch
sucht seither also sein Gegenstück, und entsprechend den drei
Kugelgeschlechtern gibt es drei Varianten der sexuellen Sehnsucht:
männlich-weiblich, weiblich-weiblich und männlich-männlich.
Heterosexualität wird recht beiläufig zum Sonderfall erklärt.
Das ausgezeichnete und staatstragende Geschlecht ist das der Männer,
die nach Männern verlangen, sie müssen durch das Gesetz
zur Ehe und Nachwuchsproduktion gezwungen werden; in Wahrheit wollen
sie eins sein mit ihrem Gegenstück. Nur diesem Geschlecht entstammen
die Staatsmänner, was Beweis genug für dessen Auszeichnung
sei .
Klaus Heinrich folgt einem Hinweis Platons auf zwei andere rebellische
Figuren, Otos und Ephialtes
, mit denen Platon die Kugelwesen vergleicht. Diese beiden riesenhaften
Brüder, auch als Alloiden bekannt, wollten die Götter
aus dem Olymp jagen und türmten dazu zwei Gebirge aufeinander.
Ihr Ziel war die Vergewaltigung von Hera (Ephialtes) bzw. von Artemis
(Otos). Um die Belagerung des Olymp zu beenden, bietet sich Artemis
freiwillig an, nicht aber Hera. Ephialtes als der ältere der
beiden Brüder will Artemis zuerst "umarmen", ein Streit zwischen
den Brüdern entbrennt, und als Artemis selbst als Reh erscheint
und die beiden ihr nachjagen und ihre Speerwurfkünste beweisen
wollen, enteilt Artemis und die beiden sterben durch den Speer des
jeweils anderen, was die Vorhersage erfüllt, dass sie weder
von einem Gott noch von einem Sterblichen getötet werden können.
In der Unterwelt werden sie Rücken an Rücken mit Schlangen
an eine Säule geschnallt und von der stygischen Eule gequält.
"das so erzeugte Ganze bereits ein Racheprodukt, anfängliche
Ganzheit also ein böser unterweltlicher Schein." (Heinrich
1997, S.83)
Gerade diese Ganzheit aber wird im platonischen Mythos als Ziel
der Sehnsucht der geteilten Menschen installiert, die gescheiterte
Rebellion gegen die Götter wird umgemünzt in das Verlangen
nach der als ursprünglich gesetzten Einheit. Der so konstruierte
Urzustand erzählt nicht mehr von der aufständischen Stärke
und Kraft der Kugelwesen, sondern wird abstrakt gefasst und als
unerreichbares Ideal eingesetzt: ,Nun trägt die Begierde und
Jagd nach der Ganzheit den Namen Eros" (Platon 1996, S.60). Die
eigentliche Katastrophe wird unterschlagen, stattdessen der Mangel
in das Verhältnis der Menschen zueinander eingeschrieben. So
eng kann die Umarmung zweier Leiber gar nicht sein, dass sie wieder
einer werden, was sie aber sollen und wollen, und zwar ausschließlich
.
Das griechische Wort für die halben Menschen, die Gegenstücke
lautet: xymbolon, Symbol. Vor der libidinösen Aufladung im
Gastmahl-Mythos bezeichnete xymbolon ein Erkennungszeichen, etwa
die zerbrochene Münze, an deren zueinander passenden Teilen
der Gastfreund den Gast erkannte, oder auch zum Eintritt in das
Theater berechtigende Scherben.
"aber niemals hatten diese Stücke Sehnsucht
nacheinander und träumten von Vereinigung. Begierde wird in
das Wort jetzt erst eingetragen, und zwar gleich mit der charakteristischen,
die Geschichte des Symbolgebrauchs bis heute begleitenden Ambivalenz,
die seine Instrumentalisierung erst ermöglicht hat: Es oszilliert
zwischen der Stellvertretung für den begehrten Anderen, der
abwesend ist und doch präsent sein soll, und der Stellvertretung
für das Alte, Wahre, Ganze, das die Aufopferung der Teile und
das Erlöschen ihres Begehrens zu seinen Gunsten verlangt. Mit
der Karriere des libidinös aufgeladenen Symbolbegriffs beginnt
zugleich seine Karriere als Ursprungsmaske - beide sind Platons
Erfindung."
(Heinrich 1997, S.84 f)
Freuds Blick zurück zum "ursprung" steht unter dem Bann der
Platonischen Einheitsphantasie, nur ist seine Idee der Ganzheit,
Vollkommenheit und Unzerstörtheit das Bild der anorganischen
Ruhe, er geht noch einen Schritt weiter zurück als Platon,
in die Menschenleere. Die Katastrophe ist bei Freud nicht erst die
Spaltung der Menschen (als Strafe für ihre gescheiterte Revolution
gegen die Götter; das Scheitern der Realisierung dieses Begehrens
als die eigentliche von Platon verschleierte Katastrophe) sondern
bereits die Entstehung des Lebens: "die lebende Substanz bei ihrer
Belebung in kleine Partikel zerrissen". Damit greift Freud auf kosmologische
Mythologeme wie das Konzept des big bang vor. Nebenbei erhalten
die Sexualtriebe die Funktion der Wiedervereinigung der für
einander bestimmten Teile; dabei ist das Einswerden vor allem ein
Wieder-Einswerden, die Trennung durch die Katastrophe der Explosion
bzw. Zerschneidung grenzt die Objekte der Begierde streng auf das
jeweilige Gegenstück ein. Anders als bei Platon ist aber nicht
die homosexuelle Einheit das Ideal/die Norm sondern die heterosexuelle.
Die Sexualtriebe haben nicht mehr sprengenden sondern synthetisierenden
Charakter, sie sind Verschmelzungstriebe, die insofern den Todestrieben
zuarbeiten, als die Herstellung der großen Einheit (aus und
wird 1) gleichzeitig die Herstellung des Anorganischen meint. Denn
nur im Anorganischen ist jeder Teil nicht mehr Teil sondern in seiner
Ganzheit vorhanden, um den Preis des Lebens (das die Teile hatten)
allerdings. Die Sprengkraft der Sexualtriebe geht in der Verschmelzungsanstrengung
verloren, und wenn das Ziel (theoretisch) wieder erreicht wäre,
wenn also Ganzheit hergestellt wäre, und der Aufstand gegen
die Götter wieder möglich sein könnte, dann ist kein
Leben mehr vorhanden.
Wie der Verweis auf die Geschichte von Otos und Ephialtes zeigt,
ist die behauptete ursprüngliche Ganzheit keine solche, sondern
eine nachträglich erzwungene. Sie dient im Platonischen Mythos
der Etablierung des Spaltungsvorgangs und der Verankerung eines
Mangels in den menschlichen Beziehungen, sie ermöglicht die
männlich-männliche Übernahme weiblicher Reproduktion/Schoßgeburt.
Schon alleine die Zeussche (Mithilfe: Apollon) Herstellung der Menschen
durch Spaltung ist ein männlicher Gewalt-Geburtsakt, der als
aseptische Operation beschrieben wird. Und durch die Ersetzung des
Geburtsvorgangs durch Spaltung wird dieser frei für eine andere
Funktion, die er in der auf Aristophanes folgenden Rede der Diotima
(als ihr Geschlecht verleugnende Geburtshelferin sokratisch/platonischer
Ideen) erhält: Das "Im-Schönen-Gebären" als ideale
Produktivität. Kopfgeburt .
Es ist erstaunlich, wie fern sich Freud in JdL der Geschlechterdifferenz
gegenüber gibt, wo er von nichts anderem als der Entstehung
der Geschlechter redet. Er leistet die Geburtsarbeit des Lebens,
er bringt im Ringen mit Pantoffeltierchen das Leben vor dem Geschlechterunterschied
hervor, samt dem alles entscheidenden Todestrieb, und er bietet
mit der Idee der ursprünglichen Ganzheit eine Vorstellung auf,
die es ihm möglich macht, vor / hinter / jenseits des Geschlechts
(samt Lustprinzip) zu gehen.
Bei Weiterspinnen der Freudschen Zerreissungsvorstellung bleibt
als offene Frage, wie die zufällige Wiederentstehung von Leben
nach Wiederherstellung des anorganischen Paradieses zu verhindern
wäre. Wahrscheinlich gar nicht, ist doch eben dieser Zustand
der Reglosigkeit die Vorbedingung für die Zerreissungskatastrophe,
oder: Genau hier beißt sich die Schlange in den Schwanz, genau
hier denkt Freud nicht mehr linearzeitlich, sondern in resignativen
Wiedergeburtsvorstellungen. (Allerdings in männlich bestimmten,
geistig vollbrachten, durchdachten.)
Diese angedeutete Wiederkehr des Gleichen widerspricht auch Marcuses
Umstilisierung des Todestriebes in ein aktuelles universales Ruhebürfnis
. Die resignative
Sehnsucht nach dem Anorganischen vergisst auf die mögliche
wiederkehrende Katastrophe und delegitimiert sich somit selbst.
Sie ist der Anfangskatastrophe/störung nicht entgegengesetzt,
sie ist nur ihre Kehrseite.
Big bang meets big sleep.
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