Als erste Männlichkeitsfolie, die Horstmann in seinem Diskurs über
die Denklust ausbreitet, untersuche ich den Freier. Mit dieser Figur
tritt die dem Horstmannschen Denken zugrundeliegende Geschlechterspannung
klar hervor. Das Geschlechterverhältnis ist auch Teil der klassischen
Apokalyptik, wie ein kurzer Blick auf die Johannes-Apokalypse zeigt.
Der biblische Text gibt für jeden Apokalyptiker die Metapher
der "Hure" durch die große Hure Babylon vor. Die
Hure Babylon ist die zweite allegorische Frauengestalt in der biblischen
Apokalypse. Die erste ist die den Messias gebärende Frau, die
vor dem Drachen in die Wüste flieht, aus der sie nicht mehr
entkommt, während ihr Kind zu Gott "Entrückt" wird. Eine
dritte illustriert jene neue Stadt, die dem Himmel entstiegen ist,
das Neue Jerusalem, ,bereit, wie eine Braut, die für ihren
Gatten geschmückt ist"( vgl. Lawrence 1932, S.272 f; sowie
Deleuze 1980, S. 114).
Lawrence liest die biblische Apokalypse u.a. als letztmalige Anrufung
eines heidnischen Weltverständnisses, das der christlichen
Bemächtigung einen Kosmos zur Zerstörung liefert, damit
am Ende die Festungstadt, die "Weder der Sonne noch des Mondes [bedarf],
um zu leuchten" errichtet werden kann (vgl. Deleuze 1980, S. 114).
Die Frauenbilder in der Apokalypse sind so Allegorien einer großen
kosmischen Mutter, die als Mutter des Messias eine flüchtige
Huldigung erfährt, als Hure Babylon der Vernichtung ausgesetzt
ist und als Neues Jerusalem geometrisch zugerichtet und steril neugeschaffen
wird als Gottes Braut (vgl. Deleuze 1980, S. 116f).
Horstmann verwendet die Metapher der Hure aber in einem anderen Sinn,
nämlich zur Veranschaulichung seiner Beziehung zur "denklust
am Apokalyptischen". Er spricht es zwar nicht aus, aber es ist offensichtlich,
dass er sich als Freier der "Hure Apokalypse" versteht, ihr Zuhälter
will er ja, wie schon zitiert, nicht sein.
Im Aufsatz heißt es:
,Natürlich darf man in diesem Zusammenhang nicht
damit hinter dem Berg halten, daß auch die Denklust jenem
Elend alles kreatürlichen tributpflichtig bleibt, von dem auf
einem ähnlich umtriebigen Sektor die Fachärzte für
Haut- und Geschlechtskrankheiten ein Liedchen zu singen wissen.
Lustgewinn wird hier wie dort mit mannigfachen Verlusten austariert,
und die anthropofugale Vernunft, der ich des öfteren beiwohne,
ist sogar eine reichlich infektiöse Geliebte." (Horstmann 1996, S.
30)
Und über die tatenfeindliche "höchste Philosophie"
heißt es: "sie ist die femme fatale der Gedankenspieler, nicht
die Hure der Macher" (ebd., S. 33).
Horstmann
allegorisiert seine Theorie der Menschenflucht in klassischer Tradition
des 19. Jahrhunderts mit einer Frauengestalt. Was ergibt sich aus
der Antiquiertheit dieses misogynen Ansatzes beim Versuch, die Bilder,
die Horstmann imaginiert, ernst zu nehmen, eine intensivere Wahrnehmung
anzustrengen? Wieso spricht er von einer Hure, und nicht von einer
Muse, die ihm die "anthropofugale Einsicht" ermöglicht? Wieso
ist ihm die Apokalypse, sprich seine eigene Theorie, eine Hure?
Welcher Art ist die Lust, die aus dem "Beiwohnen" sich ergibt?
Die Hure verschafft sündige Lust, dreckige Lust, gefährliche
Lust. Geschlechtskrankheiten sind der Preis für ihre Dienste.
Soll das heißen, sie bekommt die Krankheiten? Und sonst nichts?
Kein Geld, etc.? Jedenfalls scheint es nicht einfach nur Lust zu
geben, sie muß einen Preis haben.
Der Weltuntergang, so die Rechtfertigungslinie, ist nicht Sache
des Denkers, der sich lediglich in seinem Gedankenbordell vergnügt.
Die Welt wird vernichtet durch die Hure. Die Hure zerstört
die Welt, damit ihre Gegenspielerin wieder in ihre endgültigen
Rechte kommt: Die absolute Ruhe des Anorganischen, die tote Materie.
Hatte in der biblischen Apokalypse die Anrufung der grossen Muttergottheit
in Gestalt der Hure Babylon die Funktion, die Zerstörung des
Kosmos denk- und durchführbar zu machen, so begreift auch Horstmann
das weibliche Prinzip als sich selbst vernichtendes. Das Bemühen
um das grosse Prinzip Apokalypse, die sehnsüchtige Hinwendung
zur Hure Anthropofugalität hat als Ziel die Überwindung
des weiblichen Prinzips und die Herstellung eines Zustandes der
absoluten Leblosigkeit. Erst in der Transformation des weiblichen
Prinzips Apokalypse in die Form toter Materie werden die Todesgefahren
aufgehoben, in der der Mann sich zuvor durch sein der Hure Ausgeliefertsein
befand (und es sind nur Männer gemeint, wenn vom Menschen die
Rede ist). Die vorrangigen Gefahren der ,reichlich infektiösen
Geliebten" (Horstmann 1996, S. 30) sind der Selbstmord, der als vorauseilender
Gehorsam die Lust verkürzt, bzw. Seelenzustände deprimierter
Art, die erst gar keine Lust aufkommen lassen. Die von ihrem Anspruch
her umfassend lethale Theorie der Anthropofugalität zeigt sich
so als eine Theorie, die den Tod durch die Abschaffung des Lebens
überwinden will.
Mit dieser Abschaffung des Lebens durch die Herstellung der "anorganischen
Ruhe" entsteht allerdings die neue Gefahr bzw. Schwierigkeit, dass
es unmöglich scheint, die Menschenleere realiter zu erleben.
Als Ausweg aus diesem Dilemma präsentiert Horstmann das besonderen
Mut und Geschick erfordernde Unterfangen, den Ausflug in die ,Nachgeschichte"
(ebd., S. 30) schon zu Lebzeiten zu unternehmen, sprich ihn gedanklich
vorwegzunehmen.
Während es möglich ist, dass die Hure die einzige Sexualpartnerin
des Freiers ist, ist es unmöglich, dass ein bestimmter Freier
ihr einziger Sexualpartner ist. Das heißt für die "anthropofugale
Vernunft", dass sie - als Hure - mit vielen anderen Männern
verkehrt(e); daher erklärt sich auch ihre infektiöse Wirkung.
So stellt sich über sie eine Verbindung zwischen allen ihren
Freiern her. Diese "philosophischen Fremdgänger" (Horstmann 1996,
S. 31) werden von Horstmann als Zeugen aufgerufen.
Die gemeinsame Geliebte, die Hure, deren andere Freier man kennt,
verhilft den "Lüstlingen des Untergangs" (ebd., S. 29)
zu einem Gemeinschaftserlebnis. Ein virtueller und intellektueller
"gang bang" gesellt sich zum imaginierten ,big bang". Sie sind
sich einig in der Erfahrung der "anthropofugalen Vernunft".
Die einsamen Denker einer Welt ohne den Menschen (also ohne sie
selbst) vereinigen sich in einem gemeinsamen Koitus mit ihrer femme
fatale, die sie nicht den "Machern" (ebd., S. 33) überlassen
wollen.
Bereits in Das Untier definiert sich das menschenzermalmende
anthropofugale Denken "zu keinem Zeitpunkt als mehrheitsfähige
Doktrin, als säkulare Religion oder weltanschaulichen Sozialkitt,
sondern jederzeit als Minoritätenperspektive, als Philosophie
einer kleinen exilierten Fraktion von Nachdenkenden" (Horstmann 1983, S.
104).
Diese Idee eines Zirkels der "Eingeweihten" (Horstmann 1983, S. 70) stellt
für Brock (1986, S. 28) den "Krönungsornat des Selbsttranszendierers"
dar:
"In gemeinsamer Größe, wie nur wenige seinesgleichen,
denkt er schonungslos ein Ende, dem er sich verpflichtet fühlt
und dem sich alle anderen wimmelnden Kreaturen auf jede nur denkbare
Weise zu entziehen versuchen. Er lächelt nicht, er leidet."
(Brock 1986, S. 28)
Ein spezieller Aspekt des Leidens ist die Wehleidigkeit Kritik
gegenüber. Sie findet sich bei Horstmann an zahlreichen Stellen, angefangen
bei der zitierten Doppeleinleitung bis hin zu einem Spiegel-Artikel
über Schopenhauer ("Zeitgenossen, die Schopenhauer auf
die hier skizzierte Art zu Ende denken, die Festtagsfreude verderben
und deshalb vom akademischen Ordnungsdienst vor die Tür gesetzt
wurden", Horstmann 1991, S. 105). Horstmann mokiert sich mit Vorliebe über
die Kritik an seinen Vor- und Mitdenkern der "Anthropofugalität",
er gibt sich als Kämpfer gegen die "humanistische" Verzerrung
der Rezeption seiner Helden (v.a. Schopenhauer, Cioran, Theodor
Lessing, Mainländer, Klages). Oder er kritisiert die Verachtung
der Melancholie als ästhetischer Produktivkraft (Horstmann 1991, S.49
ff). Es ist eine heroische Selbststilisierung einer privaten Leidensgeschichte,
die dem immer wieder beschworenen Leid der Welt korrespondiert.
Dabei dient das Leid, das aus der Verkennung durch die Umwelt resultiert,
Horstmann als weiteres verbindendes Element zwischen den Denkern des Endes
- neben der gemeinsamen "Hure". Die "Partisanen der anthropofugalen
Résistance" (Brock 1986, S.29) kennen für ihre Wahrheit
zwar Niederlagen, aber keine Kapitulation.
Ergebnis der Denker-Vereinigung
ist eine Selbstzeugung: Durch die alternative ,Rekonstruktion der
Philosophiegeschichte unter radikal durchgehaltenem antihumanistischen
Aspekt" (Horstmann 1983, Klappentext) entsteht eine männliche Familie
von Denkern, die an der Welt leiden. Dass dieser Zeugungsvorgang ohne
Beteiligung realer Frauen von statten geht ist offensichtlich. Die
anthropofugale Hure ist als männliche Kopfgeburt Instrument der
denkerischen Weltüberwindung.
Ein ähnliches Phänomen stellt in diesem Zusammenhang die
wissenschaftliche Denklust dar, die ebenfalls männliche Zeugungsvorgänge
(=Geburten) zur Folge hat. Kapitel 5 widmet sich den männlichen
Geburten der Mittel der Apokalypse.
Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit dem zweiten männlichen
Rollenmodell, das Horstmann anbietet, dem Abenteurer.
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