1. kingdom come
2. the curtain has fallen
3. join the great majority
4. give up the ghost
life is a highly overrated phenomenon
5. be given a gentle push
6. the great adventure
Literaturverzeichnis samt Linx
Inhaltsverzeichnis und Gästebuch



4. give up the ghost
Denklust


4.  give up the ghost - Denklust
4.1.  Der Freier und die Frauen
4.2.  Der Abenteurer
4.3.  Der Überlebende
4.3.1.  Eine Annäherung mit Nietzsche
4.3.2.  Der Überlebende des Nicht-zu-Überlebenden
4.3.3.  Leerstelle Auschwitz
Die Einführung einer "Denklust am Untergang" als Alternative zu der ungewissen Lust am Untergang, der wir nicht einmal "am Ende unserer Tage" sicher sein können (Horstmann 1996, S. 26), "die es vielleicht gar nicht gibt" (ebd., S. 27), ist die entscheidende Neuerung im Endspiele/Thanatos-Aufsatz gegenüber dem Untier. Was genau bedeutet Horstmann diese Denklust?
Horstmann vergleicht sie mit einem "buntbemalten Paravent vor eine[r] verschlossene[n] Zimmertür" (S. 27). Hinter der verschlossenen Tür weiß er das "Unzugängliche, Unerreichbare". Horstmann schwört dem zentralen Gedanken seines Buchs Das Untier also nicht ab. Er transformiert die Lust am Untergang zum absoluten Metaphysicum, das sich jeder Anschauung und Erfahrung entzieht. Für die sinnliche Wahrnehmung bietet sich das handfestere "Ersatzprodukt für die kollektive Lust am Untergang" an, die "Denklust am Katastrophalen und Apokalyptischen", die "an unserem Jahrtausendende erneut in prächtiger Blüte steht." (Horstmann 1996, S. 27)

"Als Betroffener, als jemand, der dieser Denklust frönt und den Sirenenklängen vom Ende der Welt mit Leib und Seele verfallen ist", will Horstmann berichten von den "Expeditionen in die Nachgeschichte" den "ausflügen in das Land Menschenleer", von diversen dabei ablaufenden "Grenzüberschreitungen" und der Gegenwehr gegen "die Unterstellung, wer sich die Apokalypse ausmale, der sei automatisch ihr Zuhälter, ein Unmensch und Massenmörder im Geiste" (alle Zitate: Horstmann 1996"s. 27).

Zur Beschreibung seines "Betroffenen-Status" bietet Horstmann mehrere heroische Männlichkeitsbilder auf, die ich im folgenden genauer untersuchen werde:

  • Den Freier (durch eine Art negativer Bestimmung)
  • Den Abenteurer (auf Expedition)
  • Den Überlebenden (der den Tod als äußerste Grenze überwindet)




4.1. Der Freier und die Frauen


Als erste Männlichkeitsfolie, die Horstmann in seinem Diskurs über die Denklust ausbreitet, untersuche ich den Freier. Mit dieser Figur tritt die dem Horstmannschen Denken zugrundeliegende Geschlechterspannung klar hervor. Das Geschlechterverhältnis ist auch Teil der klassischen Apokalyptik, wie ein kurzer Blick auf die Johannes-Apokalypse zeigt.
Der biblische Text gibt für jeden Apokalyptiker die Metapher der "Hure" durch die große Hure Babylon vor. Die Hure Babylon ist die zweite allegorische Frauengestalt in der biblischen Apokalypse. Die erste ist die den Messias gebärende Frau, die vor dem Drachen in die Wüste flieht, aus der sie nicht mehr entkommt, während ihr Kind zu Gott "Entrückt" wird. Eine dritte illustriert jene neue Stadt, die dem Himmel entstiegen ist, das Neue Jerusalem, ,bereit, wie eine Braut, die für ihren Gatten geschmückt ist"( vgl. Lawrence 1932, S.272 f; sowie Deleuze 1980, S. 114).
Lawrence liest die biblische Apokalypse u.a. als letztmalige Anrufung eines heidnischen Weltverständnisses, das der christlichen Bemächtigung einen Kosmos zur Zerstörung liefert, damit am Ende die Festungstadt, die "Weder der Sonne noch des Mondes [bedarf], um zu leuchten" errichtet werden kann (vgl. Deleuze 1980, S. 114). Die Frauenbilder in der Apokalypse sind so Allegorien einer großen kosmischen Mutter, die als Mutter des Messias eine flüchtige Huldigung erfährt, als Hure Babylon der Vernichtung ausgesetzt ist und als Neues Jerusalem geometrisch zugerichtet und steril neugeschaffen wird als Gottes Braut (vgl. Deleuze 1980, S. 116f).

Horstmann verwendet die Metapher der Hure aber in einem anderen Sinn, nämlich zur Veranschaulichung seiner Beziehung zur "denklust am Apokalyptischen". Er spricht es zwar nicht aus, aber es ist offensichtlich, dass er sich als Freier der "Hure Apokalypse" versteht, ihr Zuhälter will er ja, wie schon zitiert, nicht sein.
Im Aufsatz heißt es:

,Natürlich darf man in diesem Zusammenhang nicht damit hinter dem Berg halten, daß auch die Denklust jenem Elend alles kreatürlichen tributpflichtig bleibt, von dem auf einem ähnlich umtriebigen Sektor die Fachärzte für Haut- und Geschlechtskrankheiten ein Liedchen zu singen wissen. Lustgewinn wird hier wie dort mit mannigfachen Verlusten austariert, und die anthropofugale Vernunft, der ich des öfteren beiwohne, ist sogar eine reichlich infektiöse Geliebte." (Horstmann 1996, S. 30)

Und über die tatenfeindliche "höchste Philosophie" heißt es: "sie ist die femme fatale der Gedankenspieler, nicht die Hure der Macher" (ebd., S. 33).

Kaulbach - Germania 1914Horstmann allegorisiert seine Theorie der Menschenflucht in klassischer Tradition des 19. Jahrhunderts mit einer Frauengestalt. Was ergibt sich aus der Antiquiertheit dieses misogynen Ansatzes beim Versuch, die Bilder, die Horstmann imaginiert, ernst zu nehmen, eine intensivere Wahrnehmung anzustrengen? Wieso spricht er von einer Hure, und nicht von einer Muse, die ihm die "anthropofugale Einsicht" ermöglicht? Wieso ist ihm die Apokalypse, sprich seine eigene Theorie, eine Hure? Welcher Art ist die Lust, die aus dem "Beiwohnen" sich ergibt?

Die Hure verschafft sündige Lust, dreckige Lust, gefährliche Lust. Geschlechtskrankheiten sind der Preis für ihre Dienste. Soll das heißen, sie bekommt die Krankheiten? Und sonst nichts? Kein Geld, etc.? Jedenfalls scheint es nicht einfach nur Lust zu geben, sie muß einen Preis haben.

Der Weltuntergang, so die Rechtfertigungslinie, ist nicht Sache des Denkers, der sich lediglich in seinem Gedankenbordell vergnügt. 44
Die Welt wird vernichtet durch die Hure. Die Hure zerstört die Welt, damit ihre Gegenspielerin wieder in ihre endgültigen Rechte kommt: Die absolute Ruhe des Anorganischen, die tote Materie. Hatte in der biblischen Apokalypse die Anrufung der grossen Muttergottheit in Gestalt der Hure Babylon die Funktion, die Zerstörung des Kosmos denk- und durchführbar zu machen, so begreift auch Horstmann das weibliche Prinzip als sich selbst vernichtendes. Das Bemühen um das grosse Prinzip Apokalypse, die sehnsüchtige Hinwendung zur Hure Anthropofugalität hat als Ziel die Überwindung des weiblichen Prinzips und die Herstellung eines Zustandes der absoluten Leblosigkeit. Erst in der Transformation des weiblichen Prinzips Apokalypse in die Form toter Materie werden die Todesgefahren aufgehoben, in der der Mann sich zuvor durch sein der Hure Ausgeliefertsein befand (und es sind nur Männer gemeint, wenn vom Menschen die Rede ist). Die vorrangigen Gefahren der ,reichlich infektiösen Geliebten" (Horstmann 1996, S. 30) sind der Selbstmord, der als vorauseilender Gehorsam die Lust verkürzt, bzw. Seelenzustände deprimierter Art, die erst gar keine Lust aufkommen lassen. Die von ihrem Anspruch her umfassend lethale Theorie der Anthropofugalität zeigt sich so als eine Theorie, die den Tod durch die Abschaffung des Lebens überwinden will.

Mit dieser Abschaffung des Lebens durch die Herstellung der "anorganischen Ruhe" entsteht allerdings die neue Gefahr bzw. Schwierigkeit, dass es unmöglich scheint, die Menschenleere realiter zu erleben. Als Ausweg aus diesem Dilemma präsentiert Horstmann das besonderen Mut und Geschick erfordernde Unterfangen, den Ausflug in die ,Nachgeschichte" (ebd., S. 30) schon zu Lebzeiten zu unternehmen, sprich ihn gedanklich vorwegzunehmen. 45

Während es möglich ist, dass die Hure die einzige Sexualpartnerin des Freiers ist, ist es unmöglich, dass ein bestimmter Freier ihr einziger Sexualpartner ist. Das heißt für die "anthropofugale Vernunft", dass sie - als Hure - mit vielen anderen Männern verkehrt(e); daher erklärt sich auch ihre infektiöse Wirkung. So stellt sich über sie eine Verbindung zwischen allen ihren Freiern her. Diese "philosophischen Fremdgänger" (Horstmann 1996, S. 31) werden von Horstmann als Zeugen aufgerufen. 46
Die gemeinsame Geliebte, die Hure, deren andere Freier man kennt, verhilft den "Lüstlingen des Untergangs" (ebd., S. 29) zu einem Gemeinschaftserlebnis. Ein virtueller und intellektueller "gang bang" gesellt sich zum imaginierten ,big bang". Sie sind sich einig in der Erfahrung der "anthropofugalen Vernunft". Die einsamen Denker einer Welt ohne den Menschen (also ohne sie selbst) vereinigen sich in einem gemeinsamen Koitus mit ihrer femme fatale, die sie nicht den "Machern" (ebd., S. 33) überlassen wollen.

Bereits in Das Untier definiert sich das menschenzermalmende anthropofugale Denken "zu keinem Zeitpunkt als mehrheitsfähige Doktrin, als säkulare Religion oder weltanschaulichen Sozialkitt, sondern jederzeit als Minoritätenperspektive, als Philosophie einer kleinen exilierten Fraktion von Nachdenkenden" (Horstmann 1983, S. 104).
Diese Idee eines Zirkels der "Eingeweihten" (Horstmann 1983, S. 70) stellt für Brock (1986, S. 28) den "Krönungsornat des Selbsttranszendierers" dar:

"In gemeinsamer Größe, wie nur wenige seinesgleichen, denkt er schonungslos ein Ende, dem er sich verpflichtet fühlt und dem sich alle anderen wimmelnden Kreaturen auf jede nur denkbare Weise zu entziehen versuchen. Er lächelt nicht, er leidet." (Brock 1986, S. 28) 47

Ein spezieller Aspekt des Leidens ist die Wehleidigkeit Kritik gegenüber. Sie findet sich bei Horstmann an zahlreichen Stellen, angefangen bei der zitierten Doppeleinleitung bis hin zu einem Spiegel-Artikel über Schopenhauer ("Zeitgenossen, die Schopenhauer auf die hier skizzierte Art zu Ende denken, die Festtagsfreude verderben und deshalb vom akademischen Ordnungsdienst vor die Tür gesetzt wurden", Horstmann 1991, S. 105). Horstmann mokiert sich mit Vorliebe über die Kritik an seinen Vor- und Mitdenkern der "Anthropofugalität", er gibt sich als Kämpfer gegen die "humanistische" Verzerrung der Rezeption seiner Helden (v.a. Schopenhauer, Cioran, Theodor Lessing, Mainländer, Klages). Oder er kritisiert die Verachtung der Melancholie als ästhetischer Produktivkraft (Horstmann 1991, S.49 ff). Es ist eine heroische Selbststilisierung einer privaten Leidensgeschichte, die dem immer wieder beschworenen Leid der Welt korrespondiert. 48
Dabei dient das Leid, das aus der Verkennung durch die Umwelt resultiert, Horstmann als weiteres verbindendes Element zwischen den Denkern des Endes - neben der gemeinsamen "Hure". Die "Partisanen der anthropofugalen Résistance" (Brock 1986, S.29) kennen für ihre Wahrheit zwar Niederlagen, aber keine Kapitulation.

4.  give up the ghost - Denklust
4.1.  Der Freier und die Frauen
4.2.  Der Abenteurer
4.3.  Der Überlebende
4.3.1.  Eine Annäherung mit Nietzsche
4.3.2.  Der Überlebende des Nicht-zu-Überlebenden
4.3.3.  Leerstelle Auschwitz
Ergebnis der Denker-Vereinigung ist eine Selbstzeugung: Durch die alternative ,Rekonstruktion der Philosophiegeschichte unter radikal durchgehaltenem antihumanistischen Aspekt" (Horstmann 1983, Klappentext) entsteht eine männliche Familie von Denkern, die an der Welt leiden. Dass dieser Zeugungsvorgang ohne Beteiligung realer Frauen von statten geht ist offensichtlich. Die anthropofugale Hure ist als männliche Kopfgeburt Instrument der denkerischen Weltüberwindung.
Ein ähnliches Phänomen stellt in diesem Zusammenhang die wissenschaftliche Denklust dar, die ebenfalls männliche Zeugungsvorgänge (=Geburten) zur Folge hat. Kapitel 5 widmet sich den männlichen Geburten der Mittel der Apokalypse.

Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit dem zweiten männlichen Rollenmodell, das Horstmann anbietet, dem Abenteurer.




Fußnoten



 
44. Die Hure Vernunft ersetzt dabei den Engel in der biblischen Apokalypse, der den Johannes v. Patmos bei der Hand nimmt und ihm das Ende der Welt zeigt.
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45. Mit dieser Argumentation entgeht Horstmann der logischen Antinomie, die Kant für den Beginn der Welt gezeigt hatte, und die umgekehrt auch für das Ende gilt: Das Ende der Welt ist unmöglich festzustellen, denn der menschliche Beobachter müsste hinter dem Ende postiert werden, und dann wäre es nicht das Ende der Welt (vgl. Bergfleth 1991, S. 27).
Für den Dichter gilt: ,Brecht soll gesagt haben, der Weltuntergang kümmere ihn wenig, wenn man ihm noch die Gelegenheit gebe, ihn zu beschreiben" (Burger 1988, S. 141, Nr.737).
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46. Im Aufsatz nennt Horstmann: Schopenhauer, Leopardi, von Hartmann, Mainländer, Klages, Theodor Lessing, Caraco, Cioran (vgl. Horstmann 1996, S. 31).
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47. Brock 1986, S.29: "Er kann nicht lächeln, da er sich seiner eigenen Lächerlichkeit nicht bewußt ist, wie er da als beamteter Professor im Faschingskostüm durchs Dickicht der Naherholungsgebiete schleicht, harmlose Spaziergänger durch Entblößung seines teuflischen Pferdefußes in Panik versetzend."
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48. Burger (1992) findet in einer Huldigung an Horstmann's Untier als drittem Band der Anders'schen "antiquiertheit des Menschen" die Formel: "das wahre Grauen aber ist nicht das Ende, das für viele ohnehin nur das Ende des Grauens wäre, sondern ein Grauen ohne Ende" (Burger 1992, , S. 257).
Dieses lakonische Urteil maßt sich die Entwertung zahlloser Einzelleben an. Das führt erstens zum moralischen Kolonisierungsargument "angesichts des gegenwärtigen Elends in Gegenden, wo man nicht davon spricht", zweitens zur Gleichsetzung des individuellen Todes mit dem Weltuntergang: "Wie die einzelnen leben und um ihr Leben kommen, ist nach wie vor das Problem, auch im Zeitalter der Bombe, nicht, daß alle sterben" (ebd., S. 261). Letzteres steht, wie gezeigt, in keinem Gegensatz zur apokalyptischen Denkfigur. Die Betonung des individuellen Todes führt in weiterer Konsequenz zur Figur eines heldenhaften Sterbens, das sich keinen Illusionen mehr hingibt: "die Angst vor der Apokalypse ist eine subtile Verdrängung der eigenen Todesangst. Denn der Tod der Gattung ist nur dann ein zweiter Tod, wenn man hofft, über den eigenen Tod hinaus in der Gattung fortzuleben" (ebd., S. 265). Mit Blick auf Horstmann läßt sich dagegen wohl eher behaupten, dass ein Motiv der anthropofugalen Fixierung auf die Apokalypse gerade die Überwindung des individuellen Todes durch den Eintritt in ein jenseitiges Reich der Unversehrtheit ist.
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1. kingdom come 2. the curtain has fallen 3. join the great majority 4. give up the ghost 5. be given a gentle push 6. the great adventure Literaturverzeichnis samt Linx Inhaltsverzeichnis und Gästebuch
life is a highly overrated phenomenon
Zur Theorie des männlichen Weltuntergangs bei Ulrich Horstmann

Diplomarbeit von Thomas Jöchler © 2000