4.3.2. Der Überlebende des Nicht-zu-Überlebenden
Ein weiterer Exkurs zum Gedankengang
des Überlebens ist durch die Beschäftigung mit Canettis
Masse und Macht möglich. Der Vergleich mit Canetti soll die spezifische
Form des Überlebens bei Horstmann herausarbeiten und die Frage klären,
woraus sich die Horstmannsche "Denklust am Untergang" speist.
Canetti (1998) schreibt in Masse und Macht:
"der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick
der Macht. Der Schrecken über den Anblick des Todes löst
sich in Befriedigung auf, denn man ist nicht selbst der Tote. Dieser
liegt, der Überlebende steht. Es ist so, als wäre ein
Kampf vorausgegangen und als hätte man den Toten selbst gefällt.
Im Überleben ist jeder des anderen Feind, an diesem elementaren
Triumph gemessen, ist aller Schmerz gering. Es ist aber wichtig,
daß der Überlebende allein einem oder mehreren Toten
gegenübertritt. Er sieht sich allein, er fühlt sich allein,
und wenn von der Macht die Rede ist, die dieser Augenblick ihm verleiht,
so darf nie vergessen werden, daß sie sich aus seiner Einzigkeit
und aus ihr allein herleitet.
Alle Absichten des Menschen auf Unsterblichkeit enthalten etwas
von der Sucht, zu überleben. Man will nicht nur immer da sein,
man will da sein, wenn andere nicht mehr da sind." (Canetti 1998,
S. 267)
Was Canetti hier anhand konkreten Überlebens beschreibt,
trifft sehr genau die Vorstellung, die sich Horstmann vom anthropofugalen
Denken macht. Dieses Denken der letzten Konsequenzen lukriert Empfindungen
der Macht und des Triumphs aus dem imaginierten Überleben des
per definitionem nicht überlebbaren Weltuntergangs. In dieser
Triumpherfahrung, die in jeder Hinsicht eine Eigenleistung darstellt,
zeigt sich das heroischeFaszinosum der Anthropofugalität.
Canetti geht wie Horstmann von einer Grundverfasstheit des Menschen aus
und nennt als menschliches Grundziel die Unverletzlichkeit . Er erkennt zwei unterschiedliche Wege zu diesem Ziel: Der
eine ist der der Flucht, des Verbergens vor Gefahr. Der andere ist
der Weg des Helden:
"alle frühe Überlieferung ist voll des Prahlens
und Sichberühmens über ihn: Er hat die Gefahr aufgesucht
und sich ihr gestellt. Er hat sie so nahe wie möglich an sich
herankommen lassen und alles auf die Entscheidung gesetzt. Von allen
möglichen Situationen hat er die der Anfälligkeit herausgegriffen
und auf die Spitze getrieben. [...] Wie immer es im einzelnen zugegangen
ist, die Absicht ging auf die höchste Gefahr und auf Unaufschiebbarkeit
der Entscheidung. (Canetti 1998, S. 269)
Die konkrete Situation, in welcher der Held sich nach bestandener
Gefahr befindet, ist die des Überlebenden. [...] Von Sieg zu
Sieg, von einem toten Feinde zum anderen fühlt er sich sicherer:
Seine Unverletzlichkeit nimmt zu, eine immer bessere Rüstung."
(ebd., S. 270)
Der Held bei Canetti ist der wiederholt Überlebende, derjenige,
der die Erfahrung des Überlebens immer wieder machen will,
der sich der Gefahr stellt, die Gefahr sucht, und am Ende siegreich,
d.h. lebend aus dem Kampf hervorgeht. Der Held perpetuiert das Gefühl
der Auserwähltheit, das jeder Überlebende (z.B. einer
Schlacht) hat. Unter gleichen Umständen anders als viele andere
nicht zu Tode zu kommen, ist die Auszeichnung des Überlebenden,
und beim Helden der wiederholte Beweis für seine überlegene
Stärke, für seine Verbindung zu höheren Mächten
(vgl. ebd., S. 268).
Die Genugtuung des Überlebens, die eine Art von Lust
ist, kann zu einer gefährlichen und unersättlichen Leidenschaft
werden. Sie wächst an ihren Gelegenheiten. Je größer
der Haufen der Toten ist, unter denen man lebend steht, je öfter
man solche Haufen erlebt, um so stärker und unabweislicher
wird das Bedürfnis nach ihm. Die Karrieren von Helden und Söldnern
sprechen dafür, daß eine Art von Süchtigkeit entsteht,
der nicht mehr abzuhelfen ist. [...] Was sie wirklich brauchen,
was sie nicht mehr entbehren können, ist die wieder und wieder
erneuerte Lust am Überleben" (ebd., S. 271).
Neben Helden sind speziell Feldherren und Machthaber auf wiederholte
Erfahrungen des Überlebens erpicht. Der Feldherr bezieht alle
Toten einer Schlacht auf sich, sie werden ihm zugeschrieben, als
hätte er sie alle eigenhändig getötet. Er hat alle
toten Feinde und alle toten eigenen Leute überlebt, und er
ist verantwortlich für jeden einzelnen Toten. Für den
Herrscher ist die Verfügungsgewalt über Leben und Tod
der Untertanen das entscheidende Kriterium der Macht. Zur Erfahrung
des Überlebens kommt das Moment des in-den-Tod-Schickens anderer
als Selbstvergewisserung. Denn der Machthaber selbst ist sterblich,
und es könnte seinem Sterben nachgeholfen werden. Die Produktion
von Überlebten dient dem Machhaber als Beleg für seine
intakte Macht, letztlich also für sein eigenes Überleben.
Denn: "seine sichersten, man möchte sagen seine vollkommensten
Untertanen sind die, die für ihn in den Tod gegangen sind"
(ebd., S. 274).
Canetti fragt sich, ob nicht bereits der Begriff des Selbsterhaltungstriebs
den Begriff des Überlebens beinhaltet. Die Antwort besteht
in einer Ablehnung des Begriffs Selbsterhaltung, da dieser ein per
se friedfertiges autonomes Subjekt unterstellt: "Ein friedliches
Geschöpf im Grunde! Wenn man es in Ruhe ließe, würde
es eine Handvoll Kräuter fressen und niemandem das geringste
zuleide tun" (ebd., S.295). Es gibt keine Vorstellung, die dem Menschen
unangemessener wäre:
Der Mensch will sich erhalten, gewiß, aber es gibt
andere Dinge, die er zugleich will und die davon nicht abzulösen
sind. Der Mensch will töten, um andere zu überleben. Er
will nicht sterben, um von anderen nicht überlebt zu werden.
Wenn man beides als Selbsterhaltung zusammenfassen könnte,
so hätte der Ausdruck einen Sinn. Es ist aber nicht einzusehen,
warum man an einem so ungefähren Begriffe festhalten soll,
wenn ein anderer mehr von der Sache faßt." (ebd., S. 296)
So problematisch ich die anthropologische Festschreibung von Aggression
finde, enthält
diese Passage Canettis dennoch eine zentrale Erhellung des anthropofugalen
Denkens von Horstmann. Beim Überleben geht es um eine Beziehung zu
einem Anderen, dessen Existenz verneint wird, während die eigene
erhalten und bestätigt wird. Damit erweist sich hier ein blinder
Fleck bei Horstmann: Horstmann behauptet ja den verborgenen Mechanismus der praktisch
und tendenziell selbstzerstörerischen menschlichen Aggression
erkannt zu haben. Dieser liege im Bestreben der Überwindung
jeglichen Lebens; nicht ein Überleben, sondern Aufhebung jeglichen
Lebens werde intendiert. Genau damit spießt sich aber die
Vorstellung (das Ausmalen) des menschenleeren Zustandes, die eine
Form des Überlebens des definierten Nicht-Überlebens ist.
Die gedankliche Vorwegnahme der Menschenleere zeigt als ein verdecktes
Motiv das triumphale Überleben des heroischen Denkers. Alle
mit sehr lautem Spott bedachten Gruppen, von Umweltschützern
über Technokraten zu Wissenschaftlern, können mangels
Einsicht in anthropofugales Denken nicht in den Genuss dieses Überlebens
kommen, von den ahnungslosen Massen ganz zu schweigen, welche ohnedies
mit Lemmingen verglichen werden. Die Wandlung "Von Lemmingen zu
Lüstlingen des Untergangs" (Horstmann 1996, S. 29) wird hingegen mit
dem Lustgewinn des Überlebens bedacht.
Dieses Überleben findet vor dem eigentlichen Denkakt der
weggedachten Welt schon in der Verachtung, die all jenen entgegengebracht
wird, die sich der Einsicht - "uns ist etwas in Scherben gegangen"
(Horstmann 1996, S. 28) - verschließen, seinen Ausdruck. Horstmann behauptet
eine Fundamentalopposition gegen diverse Seiten hin:
- Gegen den Humanismus, der den Menschen
als Maß aller Dinge zur Richtschnur fortschrittsorientierten
Handelns macht. In diesem Feld der politischen und technologischen
Aktivität sieht Horstmann die unbewussten Produzenten des Untergangs.
Ihnen mangelt es nicht an Tatkraft, aber an der Einsicht, dass
ihr Tun mit all seinen unvorhersehbaren Konsequenzen das Ende
der Menschheit herbeiführt, und damit seinen Zweck erfüllt,
der allerdings nicht mit den behaupteten humanistischen Zielen
übereinstimmt.
- Gegen die Friedens- u. Ökologiebewegung,
der Horstmann zwar einen klareren Blick auf das unausweichliche Ende
zugesteht als den Technokraten, die aber mit ihrer Konzentration
auf Atomwaffen
einerseits und Umweltzerstörung andererseits, nicht die beabsichtigte Rettung der Welt
vor dem Untergang bewirken, sondern lediglich "Kritische Energie"
auf Sekundäres ablenken, und so ebenfalls unbewusst der Apokalypse
zuarbeiten.
Mit Blick auf die Fortschritte biologischer Waffen, die abseits
von Anti-Atombewegung "In dem arbeitsamen und von neugieriger Querulanz
verschonten Idyll der Laboratorien" (Horstmann 1983, S. 69) entwickelt
wurden, schreibt Horstmann:
Für die Eingeweihten und das anthropofugale Denken
ist es angesichts solcher Ergebnisse tröstlich zu wissen, daß
auch jene, die der atomare Feuersturm über den Städten
nicht erreicht und die wegen ihres marginalen Lebensraumes vielleicht
auch dem letalen Fallout entgegnen (sic!) mögen, die Hoffnung
auf ein Ende keineswegs fahren lassen müssen, sondern daß
sie gewiß sein können, mit geringer zeitlicher Verzögerung
und als letzte ihrer Gattung von mutierten Viren, Bakterien und
Pilzen, einer künstlichen Lungenpest, einem verheerenden Fleckfieber,
einer nie dagewesenen Form des Milzbrandes hinweggerafft zu werden
- als Nutznießer jenes Weitblicks und jener Fürsorge,
mit der sich in der Apokalypse noch die Toten der Überlebenden
annehmen werden." (Horstmann 1983, S. 70)
Dieses Zitat kann als ironisches oder zynisches aufgefasst werden,
man kann Horstmann zugestehen, eine tatsächlich vernachlässigte
Variante moderner Kriegsführung in ihren Konsequenzen aufzudecken,
oder ihm vorhalten, genussvoll ein Bild größter Lebenszerstörung
aufzurollen, in dem den Überlebenden der Katastrophe dieses
Überleben genommen wird unter der Prämisse, dass es besser
sei, tot zu sein als zu leben. Außer Zweifel steht aber die
Position des überlebenden Denkers, der die Katastrophe vorab
generiert und so von der Warte eines Außen- bzw. Darüberstehenden
beobachten und genießen kann. Die Heftigkeit der Attacken
gegen die Mitproduzenten des Endzeitszenarios (faktisch also gegen
den gesamten Metaorganismus Menschheit) zeigt, wie gefährdet
der anthropofugale Denker seinen Monopolanspruch in Sachen Apokalypse
sieht. Der Bonus des Überlebenden würde verfallen, wenn
die Einsicht breitere Kreise ziehen würde. Horstmann könnte sich
ja mit dem Wissen um die Unausweichlichkeit der atomaren Terminierung
zurücklehnen und das Ende kommen lassen. Er könnte sich
v.a. auf seine Erkenntnis, dass auch die Friedensbewegung dem Krieg
zuarbeitet , stützen
und gelassen auf den Untergang warten, den gemäß der
eigenen Analyse gerade diejenigen am intensivsten betreiben, die
am heftigsten für seine Verhinderung auftreten. Geduld und
Warten-können sind jedoch die beiden Eigenschaften, die ein
Apokalyptiker nicht besitzt. Horstmann schaffte mit der Forderung nach
gattungsüberschreitender Solidarität beim Schlussmachen
den Spagat, die
apokalyptische Spannung auf "Eine Generation" (Horstmann 1983, S.100) auszudehnen,
indem er der menschgemachten Apokalypse das wahrhaft menschliche
Ziel der globalen Beseitigung von Leid auflädt. Dadurch kann
Horstmann die Frist bis zum Eintreffen der Apokalypse verlängern,
die Restzeit erhält eine letzte Existenzberechtigung, sie dient
der Vervollkommnung der Zerstörungsmacht .
Da dieser Aufschub für den Denker evtl. das Nicht-mehr-erleben-werden
des Untergangs bedeutet (einfach weil er vorher einen individuellen
Tod erleidet), muss zumindest der gedankliche Überlebensgewinn
rechtzeitig beansprucht werden. Dies geschieht, wie gezeigt, v.a.
in zweierlei Ausformungen: Einmal in der Denkfigur der Expedition
in das Danach, die das Überleben des Nicht-Erlebbaren vorweg
ermöglicht. Um anderen in der Argumentationsfigur einer Fundamentalopposition
zu diversen Zeitströmungen, die den exponierten Standort des
Denkens betonen und einen zusätzlichen Überlebensbonus
einbringen soll.
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