1. kingdom come
2. the curtain has fallen
3. join the great majority
4. give up the ghost
life is a highly overrated phenomenon
5. be given a gentle push
6. the great adventure
Literaturverzeichnis samt Linx
Inhaltsverzeichnis und Gästebuch



4.3.2. Der Überlebende des Nicht-zu-Überlebenden


4.  give up the ghost - Denklust
4.1.  Der Freier und die Frauen
4.2.  Der Abenteurer
4.3.  Der Überlebende
4.3.1.  Eine Annäherung mit Nietzsche
4.3.2.  Der Überlebende des Nicht-zu-Überlebenden
4.3.3.  Leerstelle Auschwitz
Ein weiterer Exkurs zum Gedankengang des Überlebens ist durch die Beschäftigung mit Canettis Masse und Macht möglich. Der Vergleich mit Canetti soll die spezifische Form des Überlebens bei Horstmann herausarbeiten und die Frage klären, woraus sich die Horstmannsche "Denklust am Untergang" speist.

Canetti (1998) schreibt in Masse und Macht:

"der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht. Der Schrecken über den Anblick des Todes löst sich in Befriedigung auf, denn man ist nicht selbst der Tote. Dieser liegt, der Überlebende steht. Es ist so, als wäre ein Kampf vorausgegangen und als hätte man den Toten selbst gefällt. Im Überleben ist jeder des anderen Feind, an diesem elementaren Triumph gemessen, ist aller Schmerz gering. Es ist aber wichtig, daß der Überlebende allein einem oder mehreren Toten gegenübertritt. Er sieht sich allein, er fühlt sich allein, und wenn von der Macht die Rede ist, die dieser Augenblick ihm verleiht, so darf nie vergessen werden, daß sie sich aus seiner Einzigkeit und aus ihr allein herleitet.
Alle Absichten des Menschen auf Unsterblichkeit enthalten etwas von der Sucht, zu überleben. Man will nicht nur immer da sein, man will da sein, wenn andere nicht mehr da sind." (Canetti 1998, S. 267)

Was Canetti hier anhand konkreten Überlebens beschreibt, trifft sehr genau die Vorstellung, die sich Horstmann vom anthropofugalen Denken macht. Dieses Denken der letzten Konsequenzen lukriert Empfindungen der Macht und des Triumphs aus dem imaginierten Überleben des per definitionem nicht überlebbaren Weltuntergangs. In dieser Triumpherfahrung, die in jeder Hinsicht eine Eigenleistung darstellt, zeigt sich das heroischeFaszinosum der Anthropofugalität.

Canetti geht wie Horstmann von einer Grundverfasstheit des Menschen aus und nennt als menschliches Grundziel die Unverletzlichkeit 84. Er erkennt zwei unterschiedliche Wege zu diesem Ziel: Der eine ist der der Flucht, des Verbergens vor Gefahr. Der andere ist der Weg des Helden:

"alle frühe Überlieferung ist voll des Prahlens und Sichberühmens über ihn: Er hat die Gefahr aufgesucht und sich ihr gestellt. Er hat sie so nahe wie möglich an sich herankommen lassen und alles auf die Entscheidung gesetzt. Von allen möglichen Situationen hat er die der Anfälligkeit herausgegriffen und auf die Spitze getrieben. [...] Wie immer es im einzelnen zugegangen ist, die Absicht ging auf die höchste Gefahr und auf Unaufschiebbarkeit der Entscheidung. (Canetti 1998, S. 269)
Die konkrete Situation, in welcher der Held sich nach bestandener Gefahr befindet, ist die des Überlebenden. [...] Von Sieg zu Sieg, von einem toten Feinde zum anderen fühlt er sich sicherer: Seine Unverletzlichkeit nimmt zu, eine immer bessere Rüstung." (ebd., S. 270)

Der Held bei Canetti ist der wiederholt Überlebende, derjenige, der die Erfahrung des Überlebens immer wieder machen will, der sich der Gefahr stellt, die Gefahr sucht, und am Ende siegreich, d.h. lebend aus dem Kampf hervorgeht. Der Held perpetuiert das Gefühl der Auserwähltheit, das jeder Überlebende (z.B. einer Schlacht) hat. Unter gleichen Umständen anders als viele andere nicht zu Tode zu kommen, ist die Auszeichnung des Überlebenden, und beim Helden der wiederholte Beweis für seine überlegene Stärke, für seine Verbindung zu höheren Mächten (vgl. ebd., S. 268).

Die Genugtuung des Überlebens, die eine Art von Lust ist, kann zu einer gefährlichen und unersättlichen Leidenschaft werden. Sie wächst an ihren Gelegenheiten. Je größer der Haufen der Toten ist, unter denen man lebend steht, je öfter man solche Haufen erlebt, um so stärker und unabweislicher wird das Bedürfnis nach ihm. Die Karrieren von Helden und Söldnern sprechen dafür, daß eine Art von Süchtigkeit entsteht, der nicht mehr abzuhelfen ist. [...] Was sie wirklich brauchen, was sie nicht mehr entbehren können, ist die wieder und wieder erneuerte Lust am Überleben" (ebd., S. 271).

Neben Helden sind speziell Feldherren und Machthaber auf wiederholte Erfahrungen des Überlebens erpicht. Der Feldherr bezieht alle Toten einer Schlacht auf sich, sie werden ihm zugeschrieben, als hätte er sie alle eigenhändig getötet. Er hat alle toten Feinde und alle toten eigenen Leute überlebt, und er ist verantwortlich für jeden einzelnen Toten. Für den Herrscher ist die Verfügungsgewalt über Leben und Tod der Untertanen das entscheidende Kriterium der Macht. Zur Erfahrung des Überlebens kommt das Moment des in-den-Tod-Schickens anderer als Selbstvergewisserung. Denn der Machthaber selbst ist sterblich, und es könnte seinem Sterben nachgeholfen werden. Die Produktion von Überlebten dient dem Machhaber als Beleg für seine intakte Macht, letztlich also für sein eigenes Überleben. Denn: "seine sichersten, man möchte sagen seine vollkommensten Untertanen sind die, die für ihn in den Tod gegangen sind" (ebd., S. 274).

Canetti fragt sich, ob nicht bereits der Begriff des Selbsterhaltungstriebs den Begriff des Überlebens beinhaltet. Die Antwort besteht in einer Ablehnung des Begriffs Selbsterhaltung, da dieser ein per se friedfertiges autonomes Subjekt unterstellt: "Ein friedliches Geschöpf im Grunde! Wenn man es in Ruhe ließe, würde es eine Handvoll Kräuter fressen und niemandem das geringste zuleide tun" (ebd., S.295). Es gibt keine Vorstellung, die dem Menschen unangemessener wäre:

Der Mensch will sich erhalten, gewiß, aber es gibt andere Dinge, die er zugleich will und die davon nicht abzulösen sind. Der Mensch will töten, um andere zu überleben. Er will nicht sterben, um von anderen nicht überlebt zu werden. Wenn man beides als Selbsterhaltung zusammenfassen könnte, so hätte der Ausdruck einen Sinn. Es ist aber nicht einzusehen, warum man an einem so ungefähren Begriffe festhalten soll, wenn ein anderer mehr von der Sache faßt." (ebd., S. 296)

So problematisch ich die anthropologische Festschreibung von Aggression 85 finde, enthält diese Passage Canettis dennoch eine zentrale Erhellung des anthropofugalen Denkens von Horstmann. Beim Überleben geht es um eine Beziehung zu einem Anderen, dessen Existenz verneint wird, während die eigene erhalten und bestätigt wird. Damit erweist sich hier ein blinder Fleck bei Horstmann: Horstmann behauptet ja den verborgenen Mechanismus der praktisch und tendenziell selbstzerstörerischen menschlichen Aggression erkannt zu haben. Dieser liege im Bestreben der Überwindung jeglichen Lebens; nicht ein Überleben, sondern Aufhebung jeglichen Lebens werde intendiert. Genau damit spießt sich aber die Vorstellung (das Ausmalen) des menschenleeren Zustandes, die eine Form des Überlebens des definierten Nicht-Überlebens ist. Die gedankliche Vorwegnahme der Menschenleere zeigt als ein verdecktes Motiv das triumphale Überleben des heroischen Denkers. Alle mit sehr lautem Spott bedachten Gruppen, von Umweltschützern über Technokraten zu Wissenschaftlern, können mangels Einsicht in anthropofugales Denken nicht in den Genuss dieses Überlebens kommen, von den ahnungslosen Massen ganz zu schweigen, welche ohnedies mit Lemmingen verglichen werden. Die Wandlung "Von Lemmingen zu Lüstlingen des Untergangs" (Horstmann 1996, S. 29) wird hingegen mit dem Lustgewinn des Überlebens bedacht.

Dieses Überleben findet vor dem eigentlichen Denkakt der weggedachten Welt schon in der Verachtung, die all jenen entgegengebracht wird, die sich der Einsicht - "uns ist etwas in Scherben gegangen" (Horstmann 1996, S. 28) - verschließen, seinen Ausdruck. Horstmann behauptet eine Fundamentalopposition gegen diverse Seiten hin:

  • Gegen den Humanismus, der den Menschen als Maß aller Dinge zur Richtschnur fortschrittsorientierten Handelns macht. In diesem Feld der politischen und technologischen Aktivität sieht Horstmann die unbewussten Produzenten des Untergangs. Ihnen mangelt es nicht an Tatkraft, aber an der Einsicht, dass ihr Tun mit all seinen unvorhersehbaren Konsequenzen das Ende der Menschheit herbeiführt, und damit seinen Zweck erfüllt, der allerdings nicht mit den behaupteten humanistischen Zielen übereinstimmt.
  • Gegen die Friedens- u. Ökologiebewegung, der Horstmann zwar einen klareren Blick auf das unausweichliche Ende zugesteht als den Technokraten, die aber mit ihrer Konzentration auf Atomwaffen 86 einerseits und Umweltzerstörung 87 andererseits, nicht die beabsichtigte Rettung der Welt vor dem Untergang bewirken, sondern lediglich "Kritische Energie" auf Sekundäres ablenken, und so ebenfalls unbewusst der Apokalypse zuarbeiten.

Mit Blick auf die Fortschritte biologischer Waffen, die abseits von Anti-Atombewegung "In dem arbeitsamen und von neugieriger Querulanz verschonten Idyll der Laboratorien" (Horstmann 1983, S. 69) entwickelt wurden, schreibt Horstmann:

Für die Eingeweihten und das anthropofugale Denken ist es angesichts solcher Ergebnisse tröstlich zu wissen, daß auch jene, die der atomare Feuersturm über den Städten nicht erreicht und die wegen ihres marginalen Lebensraumes vielleicht auch dem letalen Fallout entgegnen (sic!) mögen, die Hoffnung auf ein Ende keineswegs fahren lassen müssen, sondern daß sie gewiß sein können, mit geringer zeitlicher Verzögerung und als letzte ihrer Gattung von mutierten Viren, Bakterien und Pilzen, einer künstlichen Lungenpest, einem verheerenden Fleckfieber, einer nie dagewesenen Form des Milzbrandes hinweggerafft zu werden - als Nutznießer jenes Weitblicks und jener Fürsorge, mit der sich in der Apokalypse noch die Toten der Überlebenden annehmen werden." (Horstmann 1983, S. 70)

Dieses Zitat kann als ironisches oder zynisches aufgefasst werden, man kann Horstmann zugestehen, eine tatsächlich vernachlässigte Variante moderner Kriegsführung in ihren Konsequenzen aufzudecken, oder ihm vorhalten, genussvoll ein Bild größter Lebenszerstörung aufzurollen, in dem den Überlebenden der Katastrophe dieses Überleben genommen wird unter der Prämisse, dass es besser sei, tot zu sein als zu leben. Außer Zweifel steht aber die Position des überlebenden Denkers, der die Katastrophe vorab generiert und so von der Warte eines Außen- bzw. Darüberstehenden beobachten und genießen kann. Die Heftigkeit der Attacken gegen die Mitproduzenten des Endzeitszenarios (faktisch also gegen den gesamten Metaorganismus Menschheit) zeigt, wie gefährdet der anthropofugale Denker seinen Monopolanspruch in Sachen Apokalypse sieht. Der Bonus des Überlebenden würde verfallen, wenn die Einsicht breitere Kreise ziehen würde. Horstmann könnte sich ja mit dem Wissen um die Unausweichlichkeit der atomaren Terminierung zurücklehnen und das Ende kommen lassen. Er könnte sich v.a. auf seine Erkenntnis, dass auch die Friedensbewegung dem Krieg zuarbeitet 88, stützen und gelassen auf den Untergang warten, den gemäß der eigenen Analyse gerade diejenigen am intensivsten betreiben, die am heftigsten für seine Verhinderung auftreten. Geduld und Warten-können sind jedoch die beiden Eigenschaften, die ein Apokalyptiker nicht besitzt. Horstmann schaffte mit der Forderung nach gattungsüberschreitender Solidarität beim Schlussmachen 89 den Spagat, die apokalyptische Spannung auf "Eine Generation" (Horstmann 1983, S.100) auszudehnen, indem er der menschgemachten Apokalypse das wahrhaft menschliche Ziel der globalen Beseitigung von Leid auflädt. Dadurch kann Horstmann die Frist bis zum Eintreffen der Apokalypse verlängern, die Restzeit erhält eine letzte Existenzberechtigung, sie dient der Vervollkommnung der Zerstörungsmacht 90. Da dieser Aufschub für den Denker evtl. das Nicht-mehr-erleben-werden des Untergangs bedeutet (einfach weil er vorher einen individuellen Tod erleidet), muss zumindest der gedankliche Überlebensgewinn rechtzeitig beansprucht werden. Dies geschieht, wie gezeigt, v.a. in zweierlei Ausformungen: Einmal in der Denkfigur der Expedition in das Danach, die das Überleben des Nicht-Erlebbaren vorweg ermöglicht. Um anderen in der Argumentationsfigur einer Fundamentalopposition zu diversen Zeitströmungen, die den exponierten Standort des Denkens betonen und einen zusätzlichen Überlebensbonus einbringen soll.

 



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Fußnoten

84. "der Leib des Menschen ist nackt und anfällig; in seiner Weichheit jedem Zugriff ausgesetzt. Was er sich in der Nähe mit Kunst und Mühe vom Leibe hält, kann ihn aus der Ferne mit Leichtigkeit ereilen. Schwert, Speer und Pfeil vermögen in ihn einzudringen. Er hat Schild und Rüstung erfunden, Mauern und ganze Festungen um sich erbaut. Aber was er sich von allen Sicherungen am meisten wünscht, ist ein Gefühl der Unverletzlichkeit" (Canetti 1998, S. 268 f).
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85. Canetti zur Menschwerdung:
"[...] der Vorgang der Zeugung ist unter diesem wichtigen Aspekt des Überlebens noch nicht gesehen worden. [...] Es ist nicht eine vereinzelte Samenzelle, die ihren Weg zum Ei sucht. Es sind ihrer 200 Millionen. In einem Erguß werden sie zusammen ausgestoßen und bewegen sich nun dicht gedrängt auf ein Ziel hin. [...] Alle diese Samenzellen gehen, sei es auf dem Wege zum Ziel, sei es später in seiner unmittelbaren Nähe, zugrunde. Ein einziger Same dringt in die Eizelle ein. Man kann ihn sehr wohl als den Überlebenden bezeichnen. Er ist sozusagen ihr Führer, und ihm ist gelungen, worauf jeder Führer offen oder heimlich hofft: es ist ihm gelungen, alle, die er geführt hat, zu überleben. Aus diesem Überlebenden von 200 Millionen seinesgleichen entsteht jeder Mensch" (Canetti 1998, S. 291).
Der Ursprung der menschlichen Aggression ist im Ejakulat enthalten. Bei derartig fundamentaler Festschreibung kann der Ausweg, den Canetti aus dem Überleben sieht (nämlich im Kunstwerk, das den Künstler und die Zeit des Künstlers, also auch alle Zeitgenossen, überlebt; vgl. ebd., S. 328f), nur bemüht wirken.
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86. "Eben weil sie so vehement gegen Atombombe, Wasserstoffbomben, Neutronenbomben mobil machten, ist das wachsende Arsenal der B- und C-Waffen nahezu vollständig aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwunden; und deren Weiterentwicklung [...] hat [...] ungeahnte Erfolge gezeitigt" (Horstmann 1983, S. 69).
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87. "die ,ökologische Mode' (Maldonado 1972), die die Zukunft unter der Perspektive einer sich explosionsartig vermehrenden Menschheit und der nicht minder rapide schwindenden natürlichen Ressourcen, unter der Geißel von Hunger, Umweltverschmutzung und mitleidsloser Ausbeutung perhorresziert und verzweifelt nach Auswegen aus der Sackgasse sucht, [...] hält [von] der Einsicht fern, daß die Menschheit [...] schon lange zuvor ihr Heil in erbarmungslosen Verteilungskämpfen und Kriegen um die restlichen noch halbwegs gesunden und kontaminationsfreien Lebensräume suchen wird" (Horstmann 1983, S. 68).
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88. Für diese Enttarnung versteckter Motive der Friedensforschung wird Das Untier etwa von Stoessel (1983) gelobt: "glänzend satirische Aburteilung der Friedensforschung und -bewegung ('Friedenshetze')", "um dieses Teiles willen scheint mir das Buch lesenswert" (Stoessel 1983, S.128).
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89. "das ist also die wirkliche Wahl, die wir zu treffen haben. [...] Eine Entscheidung zwischen rücksichtslosem Gattungssuizid ohne Mitleid und Erbarmen für die hinterbliebenen Muscheln, Flechten, Fliegen und Ratten [...] und einem verantwortungsvollen Annihilismus [...] - hinein in die Solidarität des von allem Lebendigen nachgesprochenen kategorischen Nein" (Horstmann 1983, S. 101).
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90. "das Ende ist nah, doch die Apokalypse ist von langer Dauer" heißt das (aus dem Zshg. gerissen) bei Derrida 1985, S.75.
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1. kingdom come 2. the curtain has fallen 3. join the great majority 4. give up the ghost 5. be given a gentle push 6. the great adventure Literaturverzeichnis samt Linx Inhaltsverzeichnis und Gästebuch
life is a highly overrated phenomenon
Zur Theorie des männlichen Weltuntergangs bei Ulrich Horstmann

Diplomarbeit von Thomas Jöchler © 2000