4.3.1. Eine Annäherung mit Nietzsche
Eine Möglichkeit, den Aspekt
des Überlebens näher zu beleuchten, bietet der Vergleich
mit einem Fragment von Nietzsche:
Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst.
Ein Fragment aus der Geschichte der Nachwelt.
Den letzten Philosophen nenne ich mich, denn ich bin der letzte
Mensch. Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt
wie die eines Sterbenden zu mir. Mit dir, geliebte Stimme, mit dir,
dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, laß
mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich
mir die Einsamkeit hinweg und lüge mich in die Vielheit und
die Liebe hinein, denn mein Herz sträubt sich zu glauben, daß
die Liebe todt sei, es erträgt den Schauder der einsamsten
Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre.
Höre ich dich noch, meine Stimme? Du flüsterst, indem
du fluchst? Und doch sollte dein Fluch die Eingeweide dieser Welt
zerbersten machen! Aber sie lebt noch und schaut mich nur noch glänzender
und kälter mit ihren mitleidslosen Sternen an, sie lebt, so
dumm und blind wie je vorher, und nur Eines stirbt - der Mensch.
- Und doch! Ich höre dich noch, geliebte Stimme! Es stirbt
noch Einer außer mir, dem letzten Menschen, in diesem Weltall:
der letzte Seufzer, dein Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene
Wehe! Wehe! geseufzt um mich, der Wehemenschen letzten, Oedipus.
(KSA 7/460f; Sommer 1872-Anfang 1873)
Dieser Text des frühen Nietzsche kann direkter als die Horstmannschen
Gedankenspiele als persönliche Erzählung einer großen
Einsamkeit gelesen werden, der Verlust, das Vermissen konkreter
Menschen ist spürbar . Nietzsche thematisiert wesentlich stärker die psycho-physischen
Turbulenzen beim "gedankenflug" in die Nachgeschichte, er kennt
zwar die Reiseroute dahin, er weiß, wie die Welt weggedacht
werden kann, aber er ist dabei nicht glücklich, und er behauptet
es auch nicht.
"Nietzsche hat so ziemlich alles gesagt...er
hat die miteinander unverträglichsten Dinge gesagt und
gesagt, daß er sie sagt."
Jacques Derrida |
Nietzsches Position zur Apokalypse ist keine eindeutige. Einerseits
kann man Nietzsche als den Anti-Eschatologen schlechthin bezeichnen
, bei dem es kaum einen
anderen Begriff gibt, der durchgängig so positiv besetzt ist,
wie der der Zukunft. Andererseits enthält die Ausrichtung auf
Zukünftiges automatisch das apokalyptische Denkschema einer Entwertung
der Gegenwart. Die "Kritik an den letzten Dingen" (Birus 1996, S.
33), die Nietzsche v.a. in Richtung des götterdämmernden
Wagner und des willensverneinenden
Schopenhauer übt,
ist immer sehr stark auf die kritisierte Eschatologie bezogen.
So gibt es bei Nietzsche einen starken apokalyptischen Diskurs, der
"Von den letzten und ersten Dingen" handelt. Der letzte Philosoph
Oedipus im zitierten Fragment ist dabei ein Vorläufer des letzten
Menschen, der mit dem Übermenschen und dem höheren Menschen
ein zentrales Figurenensemble in Also sprach Zarathustra bildet. Dieses
apokalyptische Personal nimmt Nietzsche v.a. aus poetischen Weltuntergangsfantasien
des frühen 19.Jahrhunderts, den Übermensch etwa von Goethe
, die beiden anderen
wahrscheinlich von Jean Paul . In dessen Erzählung "die wunderbare Gesellschaft in
der Neujahrsnacht" (1801) beginnt ein Jüngling eine apokalyptische
Rede so:
Es gibt einmal einen letzten Menschen - er wird auf einem
Berg unter dem Aequator stehen und herabschauen auf die Wasser,
welche die weite Erde überziehen - festes Eis glänzet
an den Polen herauf - der Mond und die Sonne hängen ausgebreitet
und tief und nur blutig über der kleinen Erde, wie zwei trübe
feindliche Augen oder Kometen - das aufgethürmte Gewölke
strömet eilig durch den Himmel und stürzet sich ins Meer
und fährt wieder empor, und nur der Blitz schwebt mit glühenden
Flügeln zwischen Himmel und Meer und scheidet sie - Schau'
auf zum Himmel, letzter Mensch! Auf deiner Erde ist schon alles
vergangen - deine großen Ströme ruhen aufgelöset
im Meere" (zit. nach Birus 1996, S. 39).
Diese Skizze enthält das klassische apokalyptische Szenario
einer Gegenüberstellung der vereinzelten Person und eines kosmischen
Geschehens. Mehr als andere Erzählungen über Natur (wie
etwa der Erhabenheitsdiskurs) kennt die Apokalypse ein kosmisches
Feld. Nietzsches "Mitleidslosen Sternen" entsprechen Mond und Sonne,
die "Tief und nur blutig" "Wie zwei trübe feindliche Augen
oder Kometen" über der "Kleinen Erde" hängen .
An anderer Stelle beschreibt Paul die Figur des letzten Menschen
mit den Worten:
,Rund um mich eine weite versteinerte Menschheit - In
der finstern unbewohnten Stille glüht keine Liebe, keine Bewunderung,
kein Gebet, keine Hoffnung, kein Ziel - Ich so ganz allein, nirgends
ein Pulsschlag, kein Leben, Nichts um mich und ohne mich Nichts
als Nichts (...) - So komm' ich aus der Ewigkeit, so geh' ich in
die Ewigkeit--Und wer hört die Klage und kennt mich jetzt?
- Ich. - Wer hört sie, und wer kennt mich nach der Ewigkeit?
- Ich."
Das Motiv des fehlenden Adressaten der postapokalyptischen Rede
ist hier wie in Nietzsches Oedipus-Fragment klar ersichtlich. Ebenso
wird die Klage laut über den Untergang der Welt, den der Sprecher
als einziger überlebt hat. Es ist der eine Überlebende,
der sich seines Überlebens im Selbstgespräch vergewissert.
Welt ist durch die negative Totalität ihrer Abwesenheit gekennzeichnet,
das Nichts anstelle des Alls.
Die besondere Position apokalyptischen Denkens in Bezug auf die
außeriridische Sphäre beschreibt Lawrence für die
biblische Apokalypse mit dem Schlachtruf "Wir haben den Kosmos verloren!"
(Lawrence 1932, S. 246). Sein Gedankengang ortet als wichtigste
Schicht in der Apokalypse eine heidnische umittelbare Verbundenheit
mit dem Kosmos. Im Rückgriff auf diese Schicht entwirft der
Johannestext seine kosmischen Landschaften, die letztendlich nur
dazu dienen, zerstört zu werden. Das Christentum am Beginn
seiner Herrschaft bedient sich eines älteren Mythenfeldes um
sich eine Vorstellung von Welt anzueignen, die dann sogleich wieder
aus der Welt geschafft wird. Für die Moderne ortet nun Lawrence
den Verlust jeglichen Verstehens dieser alten Weltverbundenheit.
Die in der Apokalypse noch mächtigen Symbole der Verbindung
zum Kosmos sind zu blossen Allegorien geschrumpft.
Harth (1999) beschreibt den Vorgang der Ablösung des mythischen
Weltmodells als Medienrevolution:
Was die Texte offenbaren, beruht nicht zum geringsten
auf jener Schwarz-Weiß-Malerei, die archaische Wildheit mit
den Mitteln der Schriftkultur besiegt. Wütenden Untieren, geifernden
Monstern gleich treten die erdverhafteten analphabetischen Mächte
an zum letzten Gefecht mit dem Himmel, dessen vernichtendes Feuer
eine Medienrevolution vorbereitet. Denn der neue, aus dem Feuer
geborene Mensch apportiert das Buch als Symbol einer anderen, einer
die Welt entziffernden und auslegenden Macht.
(Harth 1999, S. 10)
Die Bemächtigung des Kosmos ist demnach auch als Besetzen
eines Raumes der Höhe (Geist, Wahrheit, Wort, Schrift) zu verstehen,
alles Gute kommt fortan von oben (die Apokalypse ist heilsbringend
), bzw. es thront
oben anstelle der kosmischen Mächte das unsichtbar Gute namenslos
als Gott.
Das Aufgreifen des kosmischen Szenarios in den Texten von Nietzsche
und Jean Paul geschieht auf der Basis des verlorenen Kosmos. Der
einzelne Mensch, der der einzige und letzte Mensch ist, ist alleine
mit sich und der Welt. Und die Welt ist gegen ihn. Am Ende dieser
Linie steht die Horstmannsche These vom anthropo-konstanten Deplaziertheitsgefühl.
Es findet keine Wiederbelebung des Kosmos statt, die Beschreibungen
des Kosmos sind antropomorph. Anders als in der biblischen Apokalypse
gibt es keine Drachen mehr. Die Welt ist zum Anderen des Menschen
geschrumpft, sie wird zum Spiegelbild des Menschen und schaut ihn
an. Zwei Körper existieren am Ende, der eine menschliche und
der eine der einen Welt.
Den die angeführten literarisch/philosophischen Texte orchestrierenden
naturwissenschaftlichen Diskurs beschreibt mit Verve Schumacher
:
"die Physik des ausgehenden 19.Jahrhunderts hatte das
erschreckende Bild eines Kosmos geschildert, der langsam aber sicher
stirbt. War es auch nicht mehr der Schweif eines Kometen, der die
Erde zu Asche glüht, so wurde dieser alte Spass doch exakt
und neu durch den zweiten Hauptsatz von der Energie. Dieser besagt,
die Entropie der Welt strebe ihrem Maximum zu, wobei unter Entropie
die Summe aller nicht mehr arbeitsfähigen Energie zu verstehen
sei. [...] Wenn der ,Zahn der Zeit' fertig gekaut hat, ist alles
nur noch ein abgestandener Urbrei; also einer, der nicht einmal
mehr gärt; kein morgendliches Chaos, sondern die absolute Dämmernacht,
aus der es kein Erwachen gibt, ein Sand- und Nebelmeer; die letzte
Amöbe starb soeben an Trostlosigkeit und Erkältung." (Schumacher
1937, S. 93)
"dieser alte Spass" versetzt dem Kosmos also einen Todesstoß,
indem er ihn sterblich vorstellt, der Kosmos ist endgültig
Mensch geworden .
Bei Nietzsche finden sich weitere Beispiele teleologischer und
eschatologischer Denkfiguren, etwa die moralphilosophische Gliederung
der Geschichte in eine "Vormoralische', eine "Moralische' und eine
"außermoralische' Periode der Menschheit (Jenseits von Gut
und Böse, Aphorismus 32). Das im Untertitel "Vorspiel einer
Philosophie der Zukunft' bezeichnete Buch Jenseits von Gut und Böse
kennt etliche Bilder der Brücke , des Übergangs und des Hinüberschreitens in ein
,Jenseits' der bisherigen Geschichte des Menschen (vgl. etwa Aphorismus
55). Das bekannteste Bild für eine eschatologische Denkfigur
ist sicherlich die Behauptung vom Tod Gottes (Fröhliche Wissenschaft,
Aphorismus 125 "der tolle Mensch"; KSA 3/480).
"doch zeigt sich bei einer genaueren Analyse der Texte,
daß dieser Prozeß nicht in einem fest umrissenen ,Jenseits'
wirklich ankommt, sondern einen ewig andauernden Prozeß der
Überwindung darstellt" (Behler 1988, S. 125).
Ich verzichte auf eine eingehende Analyse der Argumentation dieses
Zitats, die den Rahmen dieser Arbeit angesichts der immensen Sekundärliteratur
zu Nietzsche sprengen würde . Die These, dass Nietzsche nicht auf einen fixen Endpunkt abzielt
(der etwa Übermensch heißen könnte), lässt
sich en passant auch an der kurzen Stelle aus dem Zarathustra belegen,
die Horstmann im Untier
zitiert: "Was geliebt werden kann am Menschen, das ist, daß
er ein Übergang und ein Untergang ist." Die Verknüpfung
dieser beiden Verwandlungsformen macht m.E. die spezifisch nietzscheanische
Position aus. Horstmann kann hingegen den Übergang nicht gebrauchen
und feiert ausschließlich den Untergang ab (Horstmann 1983, S. 58).
In Die fröhliche Wissenschaft wird der endzeitliche Diskurs
bei Nietzsche von einem anderen durchkreuzt, kritisch hinterfragt
und aufgehoben. Aphorismus 109 (KSA 3/467-469) entlarvt unter dem
Titel "Hüten wir uns!" das Denken in teleologischen Kategorien
als anthropologische Projektion.
Das warnende "Hüten wir uns!" gilt dabei zuerst der Vorstellung,
dass "die Welt ein lebendiges Wesen sei":
"Wohin sollte sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich
nähren? Wie könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir
wissen ja ungefähr, was das Organische ist: und wir sollten
das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, Zufällige,
das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen,
Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es jene thun, die das All einen
Organismus nennen? Davor ekelt mir."
Das All sei aber auch nicht als Maschine aufzufassen, die auf
ein Ziel hin konstruiert ist: "Wir thun ihm mit dem Wort "Maschine'
eine viel zu hohe Ehre an". Nietzsche versteht die "astrale Ordnung,
in der wir leben", das solare Planetensystem also, als Ausnahme
vom Gesamtcharakter der Welt, der in alle Ewigkeit aus Chaos bestehe.
Wiederum die Ausnahme von der Ausnahme sei die Entstehung organischen
Lebens. Nietzsche idealisiert dabei weder das Phänomen Leben
noch das Chaos der unbelebten Materie. Was dem kosmischen Chaos
fehlt sind Kategorien ,ästhetischer Menschlichkeit" wie Ordnung,
Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit. Doch schon das Anlegen
solcher Maßstäbe ist Vermessenheit:
"Von unserer Vernunft aus geurtheilt, sind die verunglückten
Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind nicht das geheime
Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie
eine Melodie heißen darf, - und zuletzt ist selbst das Wort
"Verunglückter Wurf" schon eine Vermenschlichung, die einen
Tadel in sich schliesst. Aber wie dürften wir das All tadeln
oder loben! Hüten wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft
oder deren Gegensätze nachzusagen: es ist weder vollkommen,
noch schön, noch edel, und will Nichts von alledem werden,
es strebt durchaus nicht darnach, den Menschen nachzuahmen! Es wird
durchaus durch keines unserer ästhetischen und moralischen
Urtheile getroffen!" (ebd.)
Nietzsche spricht dem All ästhetisches Potential ab - im
Gegensatz zu Horstmann, der den menschenleeren Garten Eden als das Schöne
schlechthin beschwört. In den Nachgedichten formuliert Horstmann etwa:
"die äußerste denkbare Katastrophe ist vorüber
- und mit ihr die Kontinuität des menschlichen Leidens. Es
gibt eine Ästhetik des Nicht-Menschlichen, eine Schönheit
der Menschenleere, die die plärrende Ich-Sucht unserer Gattung
seit einigen Jahrhunderten nicht mehr wahrhaben will, wenngleich
sie der technologische Fortschritt endlich in ihrem radikalen Anspruch
für uns verfügbar gemacht hat. Es ist an der Zeit, diese
Ästhetik der Verdinglichung zu vermitteln, damit wir wissen,
wofür wir sterben."
Nietzsche
expliziert den Gedanken von der ewigen Wiederkunft des Gleichen,
der im zitierten Aphorismus 109 schon durchklingt ("das ganze Spielwerk
wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heißen darf"),
im Aphorismus 341 (KSA 3/570) als hypothetische Einflüsterung
eines Dämons:
"dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast,
wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen;
und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede
Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine
und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der
selben Reihe und Folge [...]. Die ewige Sanduhr des Daseins wird
immer wieder umgedreht - und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!"
Der so Angesprochene kann entweder den Dämon verfluchen oder
ihm antworten: "du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!"
- denn:
Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme,
er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen;
die Frage bei Allem und Jedem "Willst du dies noch einmal und noch
unzählige Male?' würde als das grösste Schwergewicht
auf deinem Handeln liegen! Oder wie müsstest du dir selber
und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als
nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?- (ebd.)
Der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke ist einerseits die "Höchste
Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann" (KSA
6/335) und damit
"Ein grundsätzlicher Einspruch gegen alle überkommenen
Spielarten der Eschatologie als materialer "Lehre von Letzten'"
(Birus 1996, S. 49). Andererseits bahnt sich in einer Formulierung
wie: "die Lehre von der Wiederkehr ist der Wendepunkt der Geschichte"
(KSA 10/515) die eschatologische Form der Überwindung der Eschatologie
bei Nietzsche an, worauf Birus (1996, S. 49ff) mit Derrida (1985)
hinweist. Der apokalyptische Ton bei Nietzsche lässt sich im
Spätwerk schon an den Titeln ablesen: Götzen-Dämmerung
("auf deutsch: es geht zu Ende mit der alten Wahrheit..." KSA 6/354)
bzw. Anti-Christ.
Nachdem der jasagende Teil meiner Aufgabe gelöst
war, kam die neinsagende, neinthuende Hälfte derselben an die
Reihe: die Umwertung aller bisherigen Werthe selbst, der grosse
Krieg, - die Heraufbeschwörung eines Tags der Entscheidung.
(KSA 6/350)
Die Absicht der Destruktion eschatologischer Diskurse führt
bei Nietzsche selbst zu einem eschatologischen Diskurs, einer ,Reinkarnation
der jüdisch-christlichen Apokalyptik zum Zwecke ihrer endgültigen
Abschaffung" (Birus 1996, S. 51). Die apokalyptische Redeposition
beinhaltet die Beanspruchung letzter Wahrheit, in deren Namen die
Entwertung anderer Positionen stattfindet. Die intensive Auseinandersetzung
Nietzsches mit der christlichen Weltsicht erhält den ,Charakter
eines kompletten Vernichtungsversuchs" (Birus 1996, S. 56):
Am Ende sind endgültige Vernichtung der Apokalypsen
und ihre triumphale Wiederkehr nicht mehr voneinander zu unterscheiden:
Apokalypse der Apokalypsen. Was folgt, ist Nietzsches Privat-Apokalypse
- nicht zuletzt im Sinne der obszönen Nebenbedeutung des Medium
von apokalayptein "sich entblößen' - in den Wahnsinnsbriefen.
(Birus 1996, S. 57)
Schon im letzten Teil von Ecce homo "Warum ich ein Schicksal bin"
(KSA 6/365ff) hat Nietzsche seine Bestimmung entblößt:
Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen
die Erinnerung an etwas Ungeheueres anknüpfen, - an eine Krisis,
wie es keine auf Erden gab, an die tiefest Gewissens-Collision,
an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin
geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch,
ich bin Dynamit. (KSA 6/53)
"Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit."
In diesem Satz bündelt sich die Auseinandersetzung Nietzsches
mit dem eschatologischen Diskurs, er überbietet jede Rede von
einem Ende durch den Verweis auf den Träger der Sprengkraft.
Der Mensch unterliegt einer Verwandlung und wird Sprengstoff. Für
eine andere Zeit eines Überganges, der auch ein Untergang ist,
formuliert prägnant Kutzner am Beispiel da Vincis:
Leonardo steht an der Stelle des Überganges, wo der
Leib in seinen Möglichkeiten und Versprechungen hervortritt,
indem ihm die konkreten Beziehungen in Arbeit und Lebensvollzug
zunehmend verschlossen werden, dieser Leib aber zugleich dem ungeheuren
Druck ausgesetzt wird, abwesend sein zu müssen. [...] Leonardos
Zeichnung des nackten Mannes im kosmologischen Kreis, auf dem die
Proportionslinien aufgezeichnet sind, deutet dieses Schicksal an.
Das Innen ist der vom Maschinen-Außen abgetrennte Bereich,
in dessen Inneren die furchtbare Kraft des codierten und weggezwungenen
Leibes tobt. Diese Kraft ist die andere Seite der bürgerlichen
Maschinen, die Wiederkehr des von ihnen verdrängten Leibes.
Die wirbelnden Wassermassen der Sintflut, die Leonardo gegen Ende
seines Lebens zeichnet, bringen diese Kraft erstmals zur Anschauung;
es ist die souveräne Substanz, die das Bürgertum immer
wieder faszinieren wird, die letzte Maschine, der Malstrom in uns
und der Kataklysmus außer uns, möglicher atomar-explosiver
Abschluß der bürgerlichen Welt. (Kutzner 1996, S. 16f)
Nietzsche verkörpert die explosive
Befreiung/Zerstörung des verdrängten Leibes. Die Dynamik
des Umwerfens, des Ausbrechens steht bei ihm bei aller Apokalyptik
im Vordergrund. Er liest die biblische Apokalypse sozusagen von vorne
und nicht von hinten
wie Horstmann, bei dem das Danach das eigentliche Motiv bildet. Nietzsche
gelangt in seiner Lektüre nicht ans Ende der Apokalypse, er errichtet
kein Paradies wieder, und nimmt nicht den jenseitigen Blickwinkel
der Apokalypse ein, der die Gegenwart völlig entwertet.
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