4.3.3. Leerstelle Auschwitz
Das zuletzt angeführte Horstmann-Zitat
bedarf einer nochmaligen Betrachtung. Vor allem der letzte Satz dieses
Zitats scheint untersuchenswert: "als Nutznießer jenes Weitblicks
und jener Fürsorge, mit der sich in der Apokalypse noch die Toten
der Überlebenden annehmen werden" (Horstmann 1983, S.70). Ich möchte
hinter die grelle Rhetorik dieses Satzes blicken und den Text in Hinblick
auf den zugrundeliegenden Horstmannschen Gedankengang befragen.
Ich denke bei diesem Satz an die große Leerstelle in den
Horstmannschen Texten: An die Tatsache, dass die ,näheste analoge
menschliche Handlung, die wir in der Geschichte finden können,
um unsere Gedanken über den Omnizid darauf zu gründen,
der Genozid ist" (Bertell 1996, S. 22). Und dabei v.a. der Holocaust
während des ,zweiten Vorbereitungskrieges" (Horstmann 1983, S. 60).
Nimmt man diese Metapher ernst, dann stellt sich die Frage, was
und welche Weise im Weltkrieg vorbereitet wurde. Neben den generellen
kriegstechnischen Fortschritten, auf die ich in Kapitel 6 zu sprechen
kommen werde, wurde im prototypischen Experimentierfeld des Nationalsozialismus,
im KZ, die Auslöschung von Menschen durchexerziert. In den
KZs geschah mit Millionen von Menschen, was in der vorgestellten
atomaren Apokalypse mit allen Menschen geschieht: Sie hörten
auf zu existieren im weitestmöglichen Sinne, nämlich nicht
nur Gegenwart oder Zukunft, sondern auch Vergangenheit betreffend.
Sie wurden ausgelöscht, und hatten dann nie existiert. Keine
Erinnerung an sie bleibt erhalten, jede physische Spur wird verwischt
(empirisch lässt sich dies z.B. am Umgang des NS-Regimes mit
der Asche aus den Krematorien der Vernichtungslager belegen, die
zum Verschwinden gebracht wird ).
Dieses Nie-existiert-haben ist ein entscheidendes Unterscheidungsmerkmal
der kupierten Apokalypse gegenüber der klassischen judäo-christlichen,
die ein Danach, eine Wiederauferstehung kennt .
Wie lief die Vernichtung im KZ konkret ab?
Der physischen Vernichtung im KZ ging eine juristische Auslöschung
voran, die auf Entmenschlichung abzielte und die die zu Vernichtenden
auf einen quasi-biologischen Status assimilierte. Die erste große
Tötungsaktion des Nationalsozialismus, die sogenannte Euthanasie-Aktion,
betraf dementsprechend konsequent mit psychiatrischen Patienten
Menschen, die nicht im vollen rechtlichen Sinne vertragsfähig
waren. Die NS-Gesetzgebung sprach in Folge zuerst deutschen Juden
im Ausland die Staatsangehörigkeit ab, 1938 auch den Juden
in Deutschland. Das Entziehen der Staatsbürgerschaft aller
Angehörigen "artfremden Blutes" dient den Nationalsozialisten
als Beweis für die Überflüssigkeit der auf diese
Weise staatenlos Gemachten (vgl. Meschnig 1995, S. 73f).
Diese Entrechtlichung, die v.a. ein Absprechen des Status Mensch
bedeutet, muss als Vorbedingung der KZ gesehen werden, denn nur
damit kann in den KZ das Programm der völligen Auslöschung
verwirklicht werden. Die KZ haben nicht die Funktion der Bestrafung
juristisch definierter Verbrechen , sondern dienen der völligen Auslöschung einer
rassisch definierten Bevölkerungsgruppe.
Eine weitere Stufe in diesem Prozess des Zum-Verschwinden-bringens
ist die Beseitigung der moralischen Person der Lagerinsassen. Ein
System des Vergessens wird installiert, in dem nicht einmal der
eigene Tod noch etwas Individuelles bezeichnen darf. Die Zahl der
Selbstmorde in den Lagern ist im Vergleich zur Zahl der Toten verschwindend
gering. Dies hängt auch mit den geringen praktischen Möglichkeiten
zur Durchführung eines Suizids zusammen. Jeder erkennbare Selbstmordversuch
wird vereitelt, so werden etwa Häftlinge, die in den Elektrozaun
springen wollen, von der SS erschossen. Die wenigen stattfindenden
Selbstmorde werden von der SS genau dokumentiert, "als ob das Staunen
über diesen letzten Rest an individueller Aktivität verschriftlicht
werden hätte müssen"(Meschnig 1995, S. 74). Die letztmögliche
individuelle Tat, der Selbstmord, wird den Gefangenen, die de iure
und auch de facto längst nicht mehr am Leben sind, verunmöglicht.
Die völlige Auslöschung individueller Existenz von noch
Lebenden macht ,zum ersten Mal in der Geschichte Märtyrertum
unmöglich" (Arendt, zit. bei Meschnig 1995, S. 73f). Der Anspruch
der Macht erstreckt sich nicht mehr nur auf das Vollstrecken des
Todesurteils (vgl. dazu diese Passage im Kapitel zu Canetti ) sondern auch auf das Leben selbst.
Die Bio-Macht im Sinne Foucaults verurteilt auch zum Leben. Das
Leben darf nicht durch einen individuellen Akt beendet werden, es
darf nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise zum Verschwinden
gebracht werden .
Eine weitere Drehung erhält die totalitäre Vernichtung
durch die Organisationsstruktur der Lager, die darauf abzielt, den
Unterschied zwischen Henkern und Opfern zu verwischen. Exemplarisch
lässt sich dies an den Sonderkommandos in Auschwitz zeigen,
wenn jüdische Häftlinge zu bestimmten Arbeiten in den
Krematorien herangezogen werden. Doch auch Gefangene, die nicht
direkt in Verbrechen hineingezogen werden, verspüren die stille
und organisierte Komplizität, die alleine schon aus dem Faktum
des Noch-am-Leben-seins entspringt. Diese Komplizenschaft mit dem
Terror endet auch nicht nach 1945, wie Primo Levi festhält:
Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend
kleine, sondern auch eine anomale Minderheit: Wir sind die, die
aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit
oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt
haben." (Primo Levi, zit. bei Meschnig 1995, S. 74)
Canettis Kategorie des Überlebenden zeigt sich hier in einer
ihrer schrecklichsten Ausformungen. Die unschuldig Bestraften überleben
als Schuldige.
Hannah Arendt hat 1951 in "Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft" die These vertreten, dass die eigentliche Utopie des
Nationalsozialismus nicht in der Umgestaltung äußerer
Bedingungen menschlicher Existenz oder der revolutionären Neuordnung
der Welt kulminierte, sondern in der "Transformation der menschlichen
Natur selbst" (zit. nach Meschnig 1995, S.72). Das KZ als die eigentliche
zentrale Institution der totalen Macht ist das Labor dieser Verwandlung,
in dem anhand bestimmter Kategorien von Menschen vorexerziert wird,
wie totale Kontrolle über Menschen installiert wird. Das letztliche
Ziel ist die vollständige Entmenschlichung und Auslöschung.
Bevor die auf den nackten Leib und das nackte Leben reduzierten
Menschen aber der Vernichtung in den Gasöfen anheimfallen,
stehen sie z.B. für medizinische Experimente zur Verfügung.
Die quasi-experimentelle Situation des Lagers erzeugt Menschen,
die nur noch sind, die für totale Herrschaft und totalen Zugriff
bereitstehen. Jede Definition einer ,Natur des Menschen" wird hinfällig,
weil Menschen in bisher unvorstellbaren Experimenten beliebig manipuliert
und transformiert werden können. Jedes Experiment der Humanwissenschaftler
am "Lebendfrischen Material" erbringt stets den Nachweis, dass es
sich nicht um Menschen sondern um nackte, tote bzw. totgeweihte
Materie handelt. Die Auslöschung geschieht so auch im Namen
einer erkenntnisgewinnenden Wissenschaft, die eine neue Art von
Leben auf den Weg bringt.
Auschwitz bedeutet so im vollsten Sinne des Wortes den
"Tod des Menschen', das Aufhören einer wie immer formulierten
und anerkannten Definition, das Verschwinden aller Sicherheiten
und bisherigen Überzeugungen" (Meschnig 1995, S. 74).
Der "Tod des Menschen" fällt mit den Toden der Menschen zusammen.
Die Auslöschung der jeweils einzelnen Menschen geschieht im
Namen einer Verbesserung des Menschen. Die Juden werden vernichtet,
weil sie als Bedrohung für den deutschen Volkskörper verstanden
werden (der sich nicht zuletzt mittels dieser Gegenübersetzung
erst konstruieren lässt). Die "Endlösung der Judenfrage"
ist in dieser Logik eine reine Notwehrmaßnahme der Volksgemeinschaft.
Das entsprechende Programm formuliert Himmler: "unsere Aufgabe geht
ins Menschenzüchterische" (zit. bei Meschnig 1995, S.72).
Dabei ist ein Prozess im Gange, der aus einer Auslese besteht, bei
der es ,niemals einen Stillstand geben kann" (Himmler, zit. bei
Meschnig 1995, S. 75). Im KZ wird bei der Vernichtung der Juden
vorexerziert, dass jeder einzelne Mensch überflüssig gemacht
und zum Verschwinden gebracht werden kann. Diese produzierte und
proklamierte Überflüssigkeit dehnt der Nationalsozialismus
gegen Ende des 2. Weltkriegs auch auf die eigene Existenz aus, was
etwa in dem berühmten Nerobefehl Hitlers zu Kriegsende deutlich
wird (vgl. Meschnig 1995, S.75). Darin kulminiert die Tendenz der
permanenten Entwertung der Gegenwart, die von dem Ausleseprozess
letztlich niemand ausnimmt. Endpunkt der totalitären Herrschaft
ist eine tatsächlich völlige Beliebigkeit der Opfer, bis
hin zur Selbstopferung.
Als Endstadium intendiert ist ein zukünftiges, von der Gegenwart
qualitativ unterschiedenes Drittes Reich, das Erlösung (vom
Bösen, das die Juden verkörpern, sowie generell vom Leid,
das die Welt bedeutet) bringen soll. Die ,politische Religion des
Nationalsozialismus" (Bärsch 1998) erfüllt so weitgehend
das Schema der biblischen Apokalypse. Auch das Programm der Apokalypse
strebt nach Entlebendigung, die neuen Leiber nach dem Jüngsten
Tag sind immaterielle Geistformen , und das Neue Jerusalem meint einen im Vergleich zum Irdischen
gänzlich unterschiedlichen Ort.
Dieses kursorische Eingehen auf den Themenkomplex des Konzentrationslagers
zeigt m. E. sehr gut die Verbindung des Feldes "Tod des Menschen"
mit der realen Produktion von toten Menschen. Horstmann lehnt ja Foucaults
Rede vom "Ende des Menschen" ab und ersetzt sie durch seine Theorie
vom Gattungssuizid (vgl. dazu Kapitel 6.3 dieser Arbeit). Horstmann wischt
mit dieser hyperrealistischen Theorie entscheidende Differenzierungen
vom Tisch. Indem er die Untersuchung des Themas Mensch ablehnt,
kann er etwa diverse Änderungen, die sich in der Konzeption
desselben ergeben, nicht entsprechend einordnen, obwohl sie ihm
durchaus auffallen. Die von ihm so hochgelobten Biowaffen signalisieren
etwa einen weitreichenden Umbau des genetisch aufgefassten Konzepts
Leben . Ebenfalls
unter den Tisch fallen jegliche Fragen nach Machtverhältnissen,
da Horstmann von einem blinden, unbewussten Grundantrieb ausgeht, der für
ihn völlig außer Frage steht. Dabei zeigt gerade die
Untersuchung der Auslöschungsvorgänge im Dritten Reich,
dass von einer feststehenden Natur des Menschen keine Rede sein
kann, sondern dass vielmehr das KZ ein Modell eines Labors zur Herstellung
anderer Arten von Natur darstellt. Dieser Umbau geschieht unter
massiven Machtverhältnissen, die nicht zuletzt durch den Verweis
auf die angebliche bzw. eigentliche Natürlichkeit des Vorganges
verschleiert und legitimiert werden sollen. Die Ausrottung der Juden
geschieht im Namen der Natur, und ich denke nicht, dass die Nazis
damit den Begriff Natur missbräuchlich verwenden. Der Begriff
der Natur (wie auch der Begriff Leben) zementiert eine bestimmte,
konstruierte, machtbesetzte Norm als ursprüngliches, unverrückbares
Prinzip ein . Im Nationalsozialismus
wird so die Rassenlehre zum ewigen Gut-Böse Antagonismus, und
das letzte Gefecht gilt der Zerstörung des Bösen . Mit der natürlichen Begründung erfolgt so die
Rückkoppelung zu einem metaphysischen Prinzip als letztem Grund,
das in keiner Weise hinterfragt oder angezweifelt werden kann.
Horstmann vermeidet des weiteren jede explizite Äußerung zur
sogenannten ,jüngeren deutschen Geschichte", um seine Theorie
nicht in Faschismusverdacht geraten zu lassen. Die lapidare Floskel
von den beiden Vorbereitungskriegen gibt dafür allerdings schon
hinlänglich Anlass. Mit einer solchen Titulierung reiht Horstmann
die beiden deutschen Welteroberungsversuche in die vernünftige
Geschichte der Vollendung des Gattungsplanes ein. Im atomaren Schlagabtausch
zwischen den Großmächten der 1980er Jahre, USA und UdSSR,
würde sich gleichsam der deutsche Heilsgedanke einer totalen
Götterdämmerung vollstrecken. Im apokalyptischen Phantasma
der völligen Destruktion realisierte sich der totale Macht-
und Beherrschungsanspruch.
Wie anhand der Funktion der Konzentrationslager
angedeutet, bedeutete für den Nationalsozialismus die Errichtung
der totalen Herrschaft in einer letzten Konsequenz auch den eigenen
Untergang : Die Beliebigkeit,
mit der sich die totalitäre Herrschaft ihre Opfer erzeugte, kannte
keine Grenzen. Das Ziel der höchsten Machtfülle bestand
darin, alle Menschen gleichermaßen überflüssig machen
zu können. Die nationalsozialistische Theorie und Praxis strebt
nach einer Selbsterlösung, die einem apokalyptischen Schema folgt:
Die Gegenwart wird zugunsten einer Zukunft stark entwertet, die Zeit
der Krise bis zum Eintritt in das paradiesische Tausendjährige
Reich (das wesentlich ein zukünftiges ist) muss durch einen finalen
Kampf gegen das Böse (für das die Juden gehalten werden)
überwunden werden. Das Selbstverständnis des Nationalsozialismus
speist sich aber zentral aus der Definition als Gutem gegen das Böse,
benötigt somit stets ein klares Freund-Feindschema (vgl. Bärsch
1998, S.131 ff). Der anvisierte Endzustand ist aber gerade durch das
Fehlen dieses Gegensatzes gekennzeichnet, schließlich muss das
Böse ein für allemal besiegt werden, um das Paradies möglich
zu machen. Dieses Paradies kann für den Nationalsozialismus dann
aber nur eine letzte Ruhestätte bedeuten, denn schließlich
war es der Kampf gegen das Böse, der ihn am Leben hielt.
Eine solche Vision eines finalen Stadiums jenseits des Gut-Böse
Dualismus formuliert Horstmann im Untier - allerdings nicht in direkter Nachfolge
des Nationalsozialismus, jedoch auch nicht in völliger Distanz
dazu.
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