4.3. Der Überlebende
Horstmann hatte, wie im vorigen
Kapitel bereits erwähnt, in der ihm eigenen ironischen (bzw.
zynischen ) Weise die
Unsicherheit der Erfolgsaussichten beim anthropofugalen Unterfangen
mit der Unsicherheit polarer Expeditionen verglichen.
Die
großen Namen Scott und Amundsen benennen dabei Tod und Überleben.
Die Wichtigkeit dieser Begriffe für Horstmann überrascht kaum;
bei einer Theorie des Omnizids
stehen sie notwendigerweise im Zentrum. Es sind zwei sich ausschließende
Begriffe, Überleben ist das Gegenteil von Sterben, wer überlebt,
stirbt nicht, ist nicht tot. Und wer tot ist, der hat nicht überlebt.
"Das spezifisch christliche Angebot auf dem
Markt des Sinns ist also das asketische Ideal - in Nietzsches
sarkastischer Formulierung: "so zu leben, daß es keinen
Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt zum "sinn' des Lebens."
Das bestätigt [...], daß auch Sinnlosigkeit eine
Form des Sinns ist. Die Melancholiker und professionell Verzweifelten
zeigen, daß Sinnlosigkeit eine sehr stabile Sinnform sein
kann. Sie ordnen ihr Leben um die Katastrophe als Negativfigur
des Sinns. Auch der Weltuntergang stammt aus der Requisitenkammer
der Sinngesellschaft."
(Norbert Bolz) |
Die Gleichsetzung von Tod und Überleben im Antarktis-Zitat
geschieht im Namen eines absoluten Bezugspunkts, der unausweichlich
in baldiger Zukunft hereinbrechenden und somit gegenwärtigen
Weltkatastrophe, dem Ende der Menschheit. Wer dessen ansichtig wird,
wer einsichtig wird, der steht durch solche Einsicht jenseits von
persönlichem Tod oder Überleben. Er hat eine höhere
Bestimmung. Die Aufhebung des Unterschiedes zwischen letalem oder
nicht-letalem Ausgang des Abenteuers der Menschenflucht hat als Kriterium
die Qualität der Nachrichten aus dem Posthumanum. Gut dass Scotts
Tagebücher gefunden wurden, gut dass er sie geführt hat.
Die "sorgfalt der Tagebucheintragungen" (Horstmann 1996, S. 31) wird schließlich
immer wieder beglaubigt .
Horstmann's ,Protokoll einer solchen Expedition" ist Das Untier, es ist
sein Tagebuch vom menschenfernen Pol. Zusätzlich zur nüchternen
Niederschrift finden sich in Nachgedichten "die Schönheiten
jener Welt aquarelliert" (Horstmann 1996, S. 29). Eine Landschaft jenseits
gewöhnlicher Vorstellung bedarf offensichtlich naturnaher Wiedergabe
und für technische Aufzeichnungsmedien scheint kein Platz im Reisegepäck gewesen zu sein. Viel
irdischer Ballast kann nicht mitgenommen werden: "das Desertieren
in noch wahrhaft exotische Vorstellungswelten" (Horstmann 1996, S. 29)
ist eine Angelegenheit des Geistes. Das Untier wurde nach Horstmanns Verständnis
nicht um 1980 geschrieben, sondern in einer ,Zeit, die noch gar
nicht angebrochen ist" (ebd.), der ,Nachgeschichte". Es "Lebt deshalb
aus dem Gedankenspiel" (ebd.), was denn wäre, wenn die Philosophie
das letzte Wort hätte. Ein in eine ,nachdesaströse, postapokalyptische
Welt" versetzter Philosoph würde seinem ,professionellem Hungergefühl"
nach Sinn folgen und aus dem, was passiert ist, Sinn destillieren
und über kurz oder lang dahin gelangen, den Gang der Ereignisse
für logisch einsehbar, folgerichtig, ja endlich für vernünftig
zu erklären. Mit anderen Worten, er schreibt Das Untier." (Horstmann
1996, S. 30).
Hm tritt kurz vor dem eigenen Werk zurück, rechtfertigt sein
Projekt, verbindet das Persönliche einmal mehr untrennbar mit
dem Werk. Der Ausflug in die dritte Person soll die Allgemeingültigkeit
des Programms verbürgen. Wenn die Kritik nicht loben will,
dann muss das Lob vom Autor auf den Weg geschickt werden. Und gut
Ding braucht Weile, die Zeit kommt wieder für ein Aufblühen
des anthropofugalen Denkens, keine Frage, und dann wird die Frage
an den Pionier kommen, der dort schon war, wo noch niemand war,
wo überhaupt niemand mehr ist, sein wird, je gewesen sein wird.
Doch, einer, er, er war schon dort. Und er ist zurückgekommen,
mit einem Trick, den er bereitwillig preisgibt :
"aber aufgepaßt, es wird alles noch viel abenteuerlicher
beim imaginativen Survival-Training, denn der Philosoph ist übel
dran. Es gibt ihn nämlich nicht, weil er zerstrahlt und ionisiert
ist wie die übrigen Zweibeiner. Und selbst wenn wir eine auf
geheimnisvolle Weise mit der Erklärungssucht zusammenhängende
temporäre Immunität erfinden und ein paar Stöße
unverkohltes Papier dazu, erreichten die Produkte ultimativen Scharfsinns
doch keine Leser mehr. Und das wäre, wie jeder zugeben wird,
doch eigentlich jammerschade. Also müssen wir die Bücher,
von denen wir wissen, daß sie nicht mehr geschrieben werden
können, wenn die Zeit reif ist, aus der Nachgeschichte ins
Präapokalyptikum transportieren und sie jetzt unter die Leute
bringen, damit sie zumindest erklärt bekommen, warum sie post
festum keinen Erklärungen mehr zugänglich sein werden.
Aus diesen Überlegungen und Einbildungen heraus ist Das Untier
entstanden." (Horstmann 1996, S. 30).
Das
Erstaunliche ist, dass Horstmann sehr wohl die Eitelkeit und Fragwürdigkeit
einer finalen Aufschreibeposition im Jenseits der Zerstörung
sieht, er aber nicht bereit ist, diese Position aufzugeben. Er behauptet
sowohl die Endkatastrophe als unabwendbaren Zielpunkt, wie er auch
für sich die Kompetenz zur Berichterstattung aus einem und
über ein wie-auch-immer geartetes Danach in Anspruch nimmt.
Er nimmt auf diese Weise eine absolute Position des Überlebens
ein, er ist in der Lage die belebte Welt zu entlebendigen, also
zu töten (natürlich nur "Im Geiste"), und selbst davon
ausgenommen zu bleiben.
Genau darin besteht der Trick des postapokalyptischen Berichterstatters,
der ein Seher ist: Er weiß aufgrund bestimmter ihm eigenen
Kompetenzen (Männlichkeit, Mut zur Einsamkeit, Mut zum finalen
Gedanken...) die Zukunft nicht vorherzusagen, sondern zu beschreiben.
Er ist in der Lage eine Zeitreise anzutreten, deren Gefährlichkeit
er nicht oft genug betonen kann. Der Einsatz des eigenen Lebens,
der eigenen Gesundheit (die Gefahren des Verkehrs mit der anthropofugalen
Vernunft-Hure) sollen die Glaubwürdigkeit des Berichts erhöhen.
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