1. kingdom come
2. the curtain has fallen
3. join the great majority
4. give up the ghost
life is a highly overrated phenomenon
5. be given a gentle push
6. the great adventure
Literaturverzeichnis samt Linx
Inhaltsverzeichnis und Gästebuch



4.3. Der Überlebende


 

4.  give up the ghost - Denklust
4.1.  Der Freier und die Frauen
4.2.  Der Abenteurer
4.3.  Der Überlebende
4.3.1.  Eine Annäherung mit Nietzsche
4.3.2.  Der Überlebende des Nicht-zu-Überlebenden
4.3.3.  Leerstelle Auschwitz
Horstmann hatte, wie im vorigen Kapitel bereits erwähnt, in der ihm eigenen ironischen (bzw. zynischen 60) Weise die Unsicherheit der Erfolgsaussichten beim anthropofugalen Unterfangen mit der Unsicherheit polarer Expeditionen verglichen.
Er ist ein Überlebender  - found in WatchmenDie großen Namen Scott und Amundsen benennen dabei Tod und Überleben. Die Wichtigkeit dieser Begriffe für Horstmann überrascht kaum; bei einer Theorie des Omnizids 61 stehen sie notwendigerweise im Zentrum. Es sind zwei sich ausschließende Begriffe, Überleben ist das Gegenteil von Sterben, wer überlebt, stirbt nicht, ist nicht tot. Und wer tot ist, der hat nicht überlebt.

"Das spezifisch christliche Angebot auf dem Markt des Sinns ist also das asketische Ideal - in Nietzsches sarkastischer Formulierung: "so zu leben, daß es keinen Sinn mehr hat zu leben, das wird jetzt zum "sinn' des Lebens." Das bestätigt [...], daß auch Sinnlosigkeit eine Form des Sinns ist. Die Melancholiker und professionell Verzweifelten zeigen, daß Sinnlosigkeit eine sehr stabile Sinnform sein kann. Sie ordnen ihr Leben um die Katastrophe als Negativfigur des Sinns. Auch der Weltuntergang stammt aus der Requisitenkammer der Sinngesellschaft."
(Norbert Bolz)
Die Gleichsetzung von Tod und Überleben im Antarktis-Zitat 62 geschieht im Namen eines absoluten Bezugspunkts, der unausweichlich in baldiger Zukunft hereinbrechenden und somit gegenwärtigen Weltkatastrophe, dem Ende der Menschheit. Wer dessen ansichtig wird, wer einsichtig wird, der steht durch solche Einsicht jenseits von persönlichem Tod oder Überleben. Er hat eine höhere Bestimmung. Die Aufhebung des Unterschiedes zwischen letalem oder nicht-letalem Ausgang des Abenteuers der Menschenflucht hat als Kriterium die Qualität der Nachrichten aus dem Posthumanum. Gut dass Scotts Tagebücher gefunden wurden, gut dass er sie geführt hat. Die "sorgfalt der Tagebucheintragungen" (Horstmann 1996, S. 31) wird schließlich immer wieder beglaubigt 63.

Horstmann's ,Protokoll einer solchen Expedition" ist Das Untier, es ist sein Tagebuch vom menschenfernen Pol. Zusätzlich zur nüchternen Niederschrift finden sich in Nachgedichten "die Schönheiten jener Welt aquarelliert" (Horstmann 1996, S. 29). Eine Landschaft jenseits gewöhnlicher Vorstellung bedarf offensichtlich naturnaher Wiedergabe und für technische Aufzeichnungsmedien 64 scheint kein Platz im Reisegepäck gewesen zu sein. Viel irdischer Ballast kann nicht mitgenommen werden: "das Desertieren in noch wahrhaft exotische Vorstellungswelten" (Horstmann 1996, S. 29) ist eine Angelegenheit des Geistes. Das Untier wurde nach Horstmanns Verständnis nicht um 1980 geschrieben, sondern in einer ,Zeit, die noch gar nicht angebrochen ist" (ebd.), der ,Nachgeschichte". Es "Lebt deshalb aus dem Gedankenspiel" (ebd.), was denn wäre, wenn die Philosophie das letzte Wort hätte. Ein in eine ,nachdesaströse, postapokalyptische Welt" versetzter Philosoph würde seinem ,professionellem Hungergefühl" nach Sinn folgen und aus dem, was passiert ist, Sinn destillieren und über kurz oder lang dahin gelangen, den Gang der Ereignisse für logisch einsehbar, folgerichtig, ja endlich für vernünftig zu erklären. Mit anderen Worten, er schreibt Das Untier." (Horstmann 1996, S. 30).

Hm tritt kurz vor dem eigenen Werk zurück, rechtfertigt sein Projekt, verbindet das Persönliche einmal mehr untrennbar mit dem Werk. Der Ausflug in die dritte Person soll die Allgemeingültigkeit des Programms verbürgen. Wenn die Kritik nicht loben will, dann muss das Lob vom Autor auf den Weg geschickt werden. Und gut Ding braucht Weile, die Zeit kommt wieder für ein Aufblühen des anthropofugalen Denkens, keine Frage, und dann wird die Frage an den Pionier kommen, der dort schon war, wo noch niemand war, wo überhaupt niemand mehr ist, sein wird, je gewesen sein wird. Doch, einer, er, er war schon dort. Und er ist zurückgekommen, mit einem Trick, den er bereitwillig preisgibt 65 :

"aber aufgepaßt, es wird alles noch viel abenteuerlicher beim imaginativen Survival-Training, denn der Philosoph ist übel dran. Es gibt ihn nämlich nicht, weil er zerstrahlt und ionisiert ist wie die übrigen Zweibeiner. Und selbst wenn wir eine auf geheimnisvolle Weise mit der Erklärungssucht zusammenhängende temporäre Immunität erfinden und ein paar Stöße unverkohltes Papier dazu, erreichten die Produkte ultimativen Scharfsinns doch keine Leser mehr. Und das wäre, wie jeder zugeben wird, doch eigentlich jammerschade. Also müssen wir die Bücher, von denen wir wissen, daß sie nicht mehr geschrieben werden können, wenn die Zeit reif ist, aus der Nachgeschichte ins Präapokalyptikum transportieren und sie jetzt unter die Leute bringen, damit sie zumindest erklärt bekommen, warum sie post festum keinen Erklärungen mehr zugänglich sein werden.
Aus diesen Überlegungen und Einbildungen heraus ist Das Untier entstanden." (Horstmann 1996, S. 30).

Some of Scotts last words: just me and my shadowDas Erstaunliche ist, dass Horstmann sehr wohl die Eitelkeit und Fragwürdigkeit einer finalen Aufschreibeposition im Jenseits der Zerstörung sieht, er aber nicht bereit ist, diese Position aufzugeben. Er behauptet sowohl die Endkatastrophe als unabwendbaren Zielpunkt, wie er auch für sich die Kompetenz zur Berichterstattung aus einem und über ein wie-auch-immer geartetes Danach in Anspruch nimmt. Er nimmt auf diese Weise eine absolute Position des Überlebens ein, er ist in der Lage die belebte Welt zu entlebendigen, also zu töten (natürlich nur "Im Geiste"), und selbst davon ausgenommen zu bleiben.

Genau darin besteht der Trick des postapokalyptischen Berichterstatters, der ein Seher ist: Er weiß aufgrund bestimmter ihm eigenen Kompetenzen (Männlichkeit, Mut zur Einsamkeit, Mut zum finalen Gedanken...) die Zukunft nicht vorherzusagen, sondern zu beschreiben. Er ist in der Lage eine Zeitreise anzutreten, deren Gefährlichkeit er nicht oft genug betonen kann. Der Einsatz des eigenen Lebens, der eigenen Gesundheit (die Gefahren des Verkehrs mit der anthropofugalen Vernunft-Hure) sollen die Glaubwürdigkeit des Berichts erhöhen.

 






Fußnoten

60. Zur Klärung des Zynismus bei Horstmann siehe Biella (1986), der mit Sloterdijks Begriff des Herrenzynismus operiert: S. 69ff, S. 113, S. 141ff.
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61. vgl. zu diesem Begriff Bertell (1996).
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62. Vergleiche: "Die klimatischen Verhältnisse in der Region größtmöglicher philosophischer Menschenferne, der Antarktis in unserem Kopf, sind vergleichbar. Frostbeulen gehören deshalb zum anthropofugalen Denken wie Herzrasen zum Humanismus. Und wer bis zum Pol vorstößt, weiß nie, ob er als Scott oder als Amundsen den Rückmarsch antritt, was übrigens nicht weiter schadet, weil sich die Ungewißheit positiv auf den Stoffwechsel und die Sorgfalt der Tagebucheintragungen auswirkt." (Horstmann 1996, S. 31).
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63. So bestätigen neue Messdaten eine außergewöhnliche Kältewelle am Südpol im März 1912, die für das Scheitern der Rückkehr des Scottschen Teams verantwortlich ist, ganz den Tagebuchaufzeichnungen entsprechend. Bisher war immer gemutmaßt worden, dass Scotts Hinweise auf das eisige Wetter nur Ausflüchte waren "um von eigenen Fehlern abzulenken" (z.B. keine Hunde für die Schlitten zu verwenden). Der klare Blick war also nicht getrübt. Ein Held ist rehabilitiert. Er ist sogar die tragischere Figur als Amundsen, hat er doch das Wettrennen verloren und dafür mit seinem Leben bezahlt. Amundsen ging dann allerdings einige Jahre später ebenfalls abenteuerlich aus dieser Welt, es war wohl einfach nichts mehr zu entdecken übrig (Kältewelle entschied Wettlauf im ewigen Eis, Kurier Wien, 11.11.1999, S. 8).
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64. Die ersten Fotos vom Danach wären wohl unbezahlbar. Aber schon die Tonbandstimmen aus dem Jenseits haben es in der großen Öffentlichkeit nicht ganz geschafft. Nachrichten aus dem All scheinen ja samt und sonders uralt zu sein, und nötigen verzwickte Analogieschlüsse über das Schicksal des Sonnensystems auf (vgl. Sgalambro 1988), deren Konsequenzen (Tod der Sonne) aber leider vom Zeitrahmen her jenseits von menschlichen Kategorien liegen. So türmen sich zeittheoretische Probleme einer Vorabbetrachtung einer zukünftig stattfindenden Katastrophe ins Endlose.
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65. Dieses Verraten des Tricks ist wie die gesamte detaillierte Erzählung der Entstehung ein verzweifelter Argumentationsversuch und ein massives Eingeständnis des starken Bedürfnisses nach Anerkennung. Dass das lautstark zurückgewiesen wird ("solche Eventualitätsliteratur zur Kenntnis zu nehmen, mag der Kathederphilosophie als eine Last erscheinen, die ich ihr hiermit von den aristotelischen Schlüsselbeinen nehme." Horstmann 1996, S. 30), ist eine das Gegenteil wünschende Negation (vgl.: "Ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedankeninhalt kann also zum Bewußtsein durchdringen, unter der Bedingung, daß er sich verneinen läßt", Freud 1992 ("die Verneinung"), S.321.).
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1. kingdom come 2. the curtain has fallen 3. join the great majority 4. give up the ghost 5. be given a gentle push 6. the great adventure Literaturverzeichnis samt Linx Inhaltsverzeichnis und Gästebuch
life is a highly overrated phenomenon
Zur Theorie des männlichen Weltuntergangs bei Ulrich Horstmann

Diplomarbeit von Thomas Jöchler © 2000