4.2. Der Abenteurer
Die Gefahren des Freiers der "Hure Apokalypse" sind für Horstmann ,Risiken
für Leib und Leben" (Horstmann 1996, S. 30). Doch "Wer auf Distanz gehen
will zum Alltäglichen und Gewohnten und deshalb auf Berge klettert, wer
den unverwandten Blick einzuüben gedenkt und vielleicht Drachenflieger
wird oder sich dem freien Fall überlässt", will das Risiko eingehen
und eine Erfahrung machen, die "Er nur so machen kann" (ebd., S.30).
Das anthropofugale Denken wird durch die Vorwegnahme der Menschenleere, die
für einen Menschen nicht wirklich erlebbar ist, zu einem Abenteuertrip.
Exemplarisch belegt Horstmann diese Denkfigur des menschenfliehenden Abenteuerers mit
H.G.Wells' Time Machine:
Die Reise in die Fremdheit, in die äußerste Objektivität
sich selbst und seinesgleichen gegenüber ist kein Sonntagsspaziergang,
und mancher, der es nicht glauben wollte, kehrt seltsam kleinlaut geworden in
den ersten Geröllfeldern wieder um. Von denen aber, die weitermarschieren,
verschwinden nicht wenige auf Nimmerwiedersehen wie der Zeitreisende in H.G.
Wells' Time Machine bei seiner zweiten Exkursion. Von der ersten bringt er einen Bericht zurück über jenen Punkt am Ende der Zeiten, der der anthropofugalen Vernunft als Aussichtsplattform dient und der in alle Ewigkeit nur über die Einbildungskraft und Imagination zu erreichen sein wird. "The Further Vision' lautet die Überschrift des Kapitels, und was es beschreibt, ist die nature morte des finalen Schöpfungstages, ein letzter Strand vor dem alles revozierenden "Es werde Nacht!', ein elementares Stilleben, eine elegische Idylle, wie sie nur entstehen kann an der Grenze zum definitiven Vorüber. Irgendwann beginnt es zu schneien, eine eisige Kälte sitzt dem Zeitreisenden in den Gliedern, betäubt ihn halb, beginnt, den Willen zur Heimkehr auszuschalten. (Horstmann 1996, S. 30f)
"Die größten Abenteuer sind im Kopf, und wenn
sie nicht im Kopf sind, dann sind sie nirgendwo, singt André Heller (inbrünstig,
als hätte ihn die Muse schon wieder so heftig beim Kleinen Braunen mit
Schlag derwischt). Das ist alles andere als die Wahrheit, aber es beruhigt so
schön. Das Abenteuer ist im Gegenteil eine höchst gesunde Lust am
Außen, an allem, was außerhalb des Kopfes ist. Vernünftigerweise." (Georg Seeßlen) | Bereits in einem frühen Aufsatz (1975) hat Horstmann Wells entdeckt und findet
den
"Keim zur anthropofugalen Weltsicht emanzipierter SF [...] in
einem Werk [...], das zwischen Utopie, Anti-Utopie und Science-fiction angesiedelt
werden muß und für die traditionelle Literaturwissenschaft immer
noch mit dem Stigma des Trivialen behaftet ist; nämlich in H.G.Wells' Time
Machine. Das bekannte Werk schildert die Erlebnisse eines Zeitreisenden, der
- am Extrempunkt seiner Reise angelangt - seine Umwelt wie folgt beschreibt: Es begann rasch zu dunkeln; ein kalter auffrischender Ostwind erhob sich, und die niederschneienden weißen Flocken wurden zahlreicher. Vom Meeresstrand kam ein Plätschern und leises Flüstern. Abgesehen von diesem seelenlosen Schall Stille ringsumher. Stille? Wie ließe sich das Schweigen in Worte fassen. Alle menschlichen Laute, das Blöken der Schafe, die Schreie der Vögel, das Summen der Insekten, die Hintergrundgeräusche unseres Lebens - alles vorüber. Hier wird das Ende des Menschen mitsamt der existierenden Fauna und Flora bedauernd zur Kenntnis genommen." (Horstmann 1975, S. 88)
Horstmann parallelisiert das literarische Motiv mit der Theorie der Anthropofugalität:
"die klimatischen Verhältnisse in der Region größtmöglicher
philosophischer Menschenferne, der Antarktis in unserem Kopf, sind vergleichbar.
Frostbeulen gehören deshalb zum anthropofugalen Denken wie Herzrasen zum
Humanismus. Und wer bis zum Pol vorstößt, weiß nie, ob er als
Scott oder als Amundsen den Rückmarsch antritt, was übrigens nicht
weiter schadet, weil sich die Ungewißheit positiv auf den Stoffwechsel
und die Sorgfalt der Tagebucheintragungen auswirkt." (Horstmann 1996, S. 31)
Bei Wells findet Horstmann ein Modell
der Beschreibung der Reise in das Danach einer vorgestellten Menschenleere.
Antarktis bezeichnet dabei den letzten "dunklen Kontinent", den letzten
- weißen - Flecken, der erst im 20.Jhdt. kartographiert werden konnte.
Die Aura dieser eisigen Abenteuer - sowohl der realen Polerkunder wie
Scott/Amundsen als auch der virtuellen Reisenden Wells/Horstmann - besteht zu einem
Gutteil aus der Verkündung, dass sie letzte Abenteuer seien. Diese Proklamation
soll den Stellenwert des jeweiligen abenteuerlichen Unterfangens hervorstreichen,
betont dabei aber auch, dass das Projekt Abenteuer im klassischen Sinn einer
Entdeckungsreise eines Individuums zu Ende geht, bzw. im Laufe des 20. Jhdt.
zu Ende gegangen ist
Das Programm des Projekts Abenteuers bestand in der Entdeckung und Eroberung
des Fremden, das seiner Bedrohung beraubt werden sollte. Heute hat für
das westliche Selbstverständnis das Fremde großteils jeden Schrecken
verloren. Das Bild der Fremde ist nicht mehr mit der Vorstellung eines drohenden
Identitätsverlustes gekoppelt, das Ausland als der Ort des Fremden erscheint
nicht mehr wie die Begegnung mit dem Unbekannten schlechthin, dem Tod. Für
den Menschen im 20. Jahrhundert ist das Ausland Ferienparadies geworden:
"Wo er sich auch hinbewegt, ob auf die Gipfel des Himalaya oder in die Tiefen unerforschter Höhlen, immer ist er zu Hause. Sowohl in der Sahara wie in den Anden reist er - metaphorisch zumindest - auf einer bequemen, berechenbaren Straße. Nichts bleibt auf seiner Route dem Zufall überlassen: Der Reisende ist gewappnet gegen Kälte und Krankenheit, Durst und Sauerstoffmangel." (Braun 1989, S. 17)
Braun (1989) beschreibt historisch, wie durch einen Domestizierungsprozess
dieses Ende des Projekts Abenteuer zustande gekommen ist.
Sie versteht dieses Verschwinden des Unbekannten, das das Fremde bezeichnet,
vor dem Hintergrund der Entstehung des utopischen Denkens. Das utopische Denken entsteht mit der Erfindung der Schrift. Durch das Verewigen von Worten und Gedanken kann ein Denken in Kategorien von Vergangenheit und Geschichte entstehen, was ein Denken an eine Zukunft ermöglicht, die nicht mehr eine zyklische Wiederkehr ist, sondern Fortschritt bedeutet. Das deutlichste Zeichen für diese neue Vorstellungswelt ist das Aufkommen des Monotheismus, des Glaubens an einen unsichtbaren Gott. Der im Nirgendwo angesiedelte Gott ist die Urform des nichtreligiösen utopischen Denkens (z.B. bei Platon oder Morus), das in Folge die Wahrheit und die bessere Welt ebenfalls im Unsichtbaren eines Nirgendwo ansiedelt (vgl. Braun 1989, S.19). Mit dem Nirgendwo (sei es nach dem Tode oder auf der Insel Utopia) verbindet sich die Hoffnung, mittels einer Reise aus der normalen Realität zu entkommen und eines Tages in das Nirgendwo zu gelangen: "die Fremde erlebt schon ihre erste Domestizierung, wird sie doch zum Ort der Verheißung, zum Ziel aller Sehnsüchte nach einer Rückkehr ins Paradies" (Braun 1989, S. 19).
Die v.a. im Christentum sehr präzisen Vorstellungen vom Reich Gottes
erklären einerseits die Anziehungskraft , andererseits den missionarischen Drang des Christentums, die Herstellung
des paradiesischen Zustands zu beschleunigen.
Die säkularen utopischen Modelle - als der christlichen Heilslehre
ähnliche Programme - streben mit vergleichbarem missionarischem Drang immer
mehr ihrer Realisierung entgegen, bis im 20. Jahrhundert schließlich beinahe
jedes utopische Modell seine Verwirklichung findet, wenn auch stets ein wenig
anders, als von den Erfindern erträumt.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts kommt so dem utopischen Denken sein Thema durch dessen Realisierung abhanden, das Fremde (z.B. auch als bedrohliche Natur) wird immer mehr domestiziert. Es sucht sich deshalb neue Betätigungsfelder, es sucht neues Unbekanntes:
"so entstanden die Sozialwissenschaften, und mit ihnen die Psychoanalyse, Ethnologie, Anthropologie und - last not least - ein brennendes Interesse an der Vergangenheit. Denn während das utopische Denken bisher darum bemüht war, Realität zu schaffen, so setzte es nunmehr dazu an, Realität neu zu interpretieren. [...] Im Sinne eines universalen Gesetzes, einer wissenschaftlich erwiesenen Wahrheit, die die Andersartigkeit verleugnet." (Braun 1989, S. 29)
Utopisches Denken kümmert sich nicht mehr um Zukunft , sondern imaginiert die Geschichte "des" Menschen (unter stillen Voraussetzungen). Es geht um eine Entdekkung des Menschen, die auch eine Erfindung, somit auch eine Geburt, ist. Die Suche nach dem letzten Fremden, den letzten dunklen Kontinenten führt zur selben Zeit in die Antarktis und in die Psyche der Menschen. Es sind Reisen mit dem gleichen Ziel, der Inbesitznahme, der Aneignung eines Fremden, des ganz anderen, das als Solches jedoch zuvor konstruiert wurde. Geht nämlich dem utopischen Denken auf der einen Seite der Gegenstand abhanden, so wird andererseits dieser Gegenstand immer schon vom Denken selbst erzeugt. Wenn die Welt im 19. Jahrhundert im wesentlichen eine bekannte, eroberte ist - es sind nicht mehr viele weiße Flecken auf der Weltkarte vorhanden, neben der Antarktis vielleicht noch das "Herz der Finsternis" - so muss die Fremde hergestellt werden.
In der Zeit, in der die Montgolfieres von ihren Luftschiffen aus die Erde von oben sehen und Kant den ewigen Frieden andenkt, breitet sich eine Sehnsucht nach dem Fremden aus. In der Romantik stoßen Schriftsteller und Künstler in die hintersten Winkel der Erde vor, "angeblich, um noch einmal dem Fremden zu begegnen, in Wirklichkeit aber, um die Andersartigkeit zu erdichten" (Braun 1989, S. 30).
Novalis "Erfindet" in Anschluss an Goethes Werther den Tod als die "Heimat, in der Dichtung, Geschichte und das Leben selbst ihre Erfüllung finden" (Braun 1989, S. 31). Eine ,Reise nach innen" beginnt:
"Man hofft, dort im Dunkel noch einmal dem Fremden zu begegnen. Aber ist es nicht seltsam, daß eine solche Reise ins Dunkel in eben jenem historischen Moment unternommen wird, in dem Galvani den Strom entdeckt? Muß es nicht stutzig machen, daß Novalis seine Hymnen an die Nacht verfaßt, kurz bevor die Glühlampe die Gespenster der Dunkelheit verscheucht?" (Braun 1989, S. 31)
Eine Fremdheit im eigenen Ich wird zur Voraussetzung für künstlerische Tätigkeit:
"so erklärt sich auch diese Vielfalt von Symptomen, mit denen Künstler und Schriftsteller im 19.Jahrhundert ihre Weiblichkeit - die Andersartigkeit im eigenen Ich - entdecken und feiern. [...] Ein wahrer Kult entwickelt sich um die Kränklichkeit, die bis dahin als Charakteristikum der Frau galt. Gleichzeitig fabriziert man ein unendlich erweitertes Innenleben, ein geradezu omnipotentes Ich." (Braun 1989, S. 32)
Das omnipotente Ich bemächtigt sich v.a. des Todes, der bislang als weiblich galt, wie u.a. im Hexenhammer beschrieben. Der Tod, als "Eine dumme Angelegenheit, die eigentlich schon längst hätte abgeschafft werden sollen" (Ariès, zit. bei Braun 1989, S.17), wird zum Pol letzter Abenteuer.
Bei Horstmann markiert dieser Pol einerseits das Risiko des anthropofugalen Denkens (als für den Denker gefährliche Reise, die etwa in der vorzeitigen Sackgasse Selbstmord enden könnte), andererseits benennt er Gegenstand und Ziel eben dieses Denkens. Der heroisierte Denker der Menschenleere besitzt die Robustheit (vgl. Horstmann 1996, S.31), sich die Maximalvariante des Todes, den Omnizid, vorzustellen, und nimmt dadurch keinen Schaden. Das letzte verbliebene Fremde ist der Tod, der letzte verbliebene Ort, an dem sich das Fremde befinden kann, ist das Ich des anthropofugalen Denkers. Das utopische Denken, das ein paradiesisches Anderswo jenseits irdischer Realität veranschlagt, kommt endgültig im transzendenten Nirgendwo an, das bei Horstmann statt "Reich Gottes" nun "vermondeter Planet Erde" heißt. Die gefährliche gedankliche Herstellung der Unbelebtheit dient dabei in letzter Konsequenz der Rückversicherung der eigenen Lebendigkeit. Wer sich die Menschenleere vorstellen kann, weiß, dass er selbst noch am Leben ist. Diesen Aspekt des Überlebens werde ich im nächsten Kapitel eingehender untersuchen.
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